Ein schwarzer Tag für die Kinderrechte - wie lange noch?/Transskript

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Begrüßung

Christoph Pabst: Herzlich willkommen in München beim Livestream zu der heutigen Gesprächsrunde mit Victor Schiering.

Wir sprechen heute über den 12.12.2012 - also heute vor neun Jahren. Da hat der Bundestag das sogenannte Beschneidungsgesetz verabschiedet. Und sprechen tu ich mit Victor Schiering. Victor ist der Vorsitzende von MOGiS e.V. MOGiS e.V. ist ein Verein, der sich um die Rechte kümmert von Betroffenen, um Eingriffe in die sexuelle Selbstbestimmung, im Kindes- und Jugendalter. Und da fällt zwangsläufig die Beschneidung rein.

Beschneidungsgesetz

Ja, Victor, schön, dass wir uns hier unterhalten. Es ist 2021. Vor neun Jahren wurde 'n Gesetz verabschiedet, und heute reden wir darum. Das ist 'n bisschen spät, vor allem im 3. Jahr Pandemie denkt man sich auch, es gibt wahrscheinlich Wichtigeres oder sowas. Warum kümmern wir uns heute um die "alte Kamelle" 1631

Victor Schiering: d …

CP: d …

VS: … BGB. Ja. Schön! Es freut mich auch, dass ich hier sein kann. Wir haben immer darüber gesprochen in den ganzen Jahren. Also das hat ja nie aufgehört. Wir reden heute mal wieder darüber, diesmal in einem anderen Format. Wir haben jetzt eben diese lange Sendezeit uns auserkoren, um mal wirklich diese ganzen Geschehnisse von damals zu rekapitulieren. Denn die Folgen von damals, die bestehen ja bis heute, und zwar für die Betroffenen. Die haben niemals aufgehört, und insofern gelten die weiterhin und sind eine Herausforderung für diejenigen, die die Verantwortung für diese Folgen tragen. Und darüber müssen wir reden. So ist ja auch ein Titel dieser Sendung: "Wir müssen reden!"

CP: Die Geschichte ging ja nicht los mit dem Beschneidungsgesetz, sondern es ging ja los mit dem Urteil vom Landgericht in Köln vom 7. Mai 2012. Was wurde denn da entschieden? Und zu welchen Diskussionen hat das geführt?

VS: Also, ich sag jetzt lieber nochmal kurz, was das Gesetz überhaupt beinhaltet, wenn jetzt Leute zum ersten Mal diese Sendung gucken und sagen: "Was heißt das - Beschneidungsgesetz?" Das heißt eben, dass medizinisch nicht notwendige Vorhautamputationen an minderjährigen Jungen im Erziehungsrecht der Eltern im Bürgerlichen Gesetzbuch legalisiert worden sind. Im gleichen Gesetz ist dann gleich ein Paragraph, wo das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung festgesetzt ist. Das ist das Ergebnis, also die völlige Schutzlosstellung und auch weitgehende Rechtlosstellung von Jungen gegen diesen Eingriff.

Dem vorausgegangen - völlig richtig - war eine kurze, heftige Debatte in Deutschland im Jahr 2012, die ausgelöst war durch ein Urteil des Kölner Landgerichts am 7. Mai 2012. Damals war entschieden worden, dass eine medizinisch nicht notwendige Vorhautamputation an einem Jungen eine Straftat darstellt - nach geltendem Recht - wie ich eben beschrieb, nach dem Recht auf gewaltfreie Erziehung.

Und das hat sehr heftige Reaktionen bei vielen Interessenverbänden, bei Politikern. [Da] ging gleich ein großer Streit los. [Es gab] sehr, sehr viele Stimmen, die dieses Urteil für nicht gut hielten, aber auch einige, die das unterstützten.

Der Antrag

Und der Bundestag hat dann sehr schnell, bereits am 19. Juli, einen Antrag verabschiedet in der letzten Sitzung vor der Sommerpause, …

CP: Den haben wir hier …

VS: Genau, damals … da gab's die Spanien-Kredite, die wurden da veranschlagt, und das hat zu einigen Tumulten geführt, weil sich einige Abgeordnete nicht hinreichend informiert fühlten. Und wenn du magst, kannst du ja mal vorlesen …

CP: Der hat's auch schon in sich - gleich der erste Absatz, also: "Der deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, im Herbst 2012", also der Antrag ist vom 19.7., also quasi binnen drei Monaten, "… im Herbst 2012 unter Berücksichtigung der grundsätzlich geschützten Rechtsgüter des Kindeswohls, der körperlichen Unversehrtheit, der Religionsfreiheit und des Rechts der Eltern auf Erziehung einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sicherstellt, dass eine medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich zulässig ist." Also das Ergebnis ist ganz klar vorausgenommen.

VS: Genau!

CP: Also es geht nicht darum, zu erforschen, wie gehen wir damit um, wie können wir Rechtssicherheit herstellen, sondern es geht darum, wie wollen wir am Ende, dass das zulässig ist.

VS: Ja, Rechtssicherheit war schon das Ziel dieser Befürworter, aber eben Rechtssicherheit für die Erwachsenen, nicht für die Kinder. Und interessant ist das mit den unnötigen Schmerzen. Also nötige Schmerzen müssen Jungs eben wohl ertragen, wenn Erwachsene das eben in Kauf nehmen für ihre Vorstellungen, die sie an dem Kind verwirklichen. Und was auch noch wichtig ist zu wissen [ist] das, was da eigentlich passiert: Da steht ja nur "Beschneidung" - sowieso ein merkwürdiges Wort, da können wir auch noch drüber sprechen heute. Was da anatomisch passiert, ist überhaupt gar nicht beschrieben, aus was dieses Organ besteht, was da gemacht wird. Das ist alles so ein bisschen im Nebulösen, davon finden wir nichts. Also: nicht definiert, und dann auch noch das Ende der Debatte eigentlich vorausgenommen.

CP: Wir sehen ja, was damals schon irgendwie für 'ne Art Fahrlässigkeit oder Fehler gemacht wurde. Vielleicht machen wir den ja eben nicht und fangen genau damit an, dass wir mal klären: Worum geht's denn eigentlich? Was ist das, das gemacht wird?

Worum geht's denn eigentlich?

Da haben wir auch eine Folie …

Vorhaut - Aufbau und Funktion

CP: Ja, da kann man nämlich mal sehen, was da eigentlich anatomisch mit der Vorhaut eigentlich vorliegt. Es ist eben kein Stück Haut, was übersteht, sondern eben eine Doppelhautfalte mit verschiedener Oberflächenstruktur. Es gibt eine Außenhaut, eine innere Vorhaut, es gibt muskulöses Gewebe. Besonders das Vorhautbändchen ist eben mit sehr sensiblen Nerven ausgestattet, sehr stark wichtig für die Sexualempfindung. Man sieht auch, wie groß der Umfang ist. Auf dem zweiten Bild, auf der Hand, ja, und dann auch bei zurückgestreifter Vorhaut in der unteren Zeile in der Mitte, wieviel das eigentlich ausmacht. Es ist ungefähr die Hälfte der am Penis befindlichen Haut, die weggeschnitten wird - und der sensibelste Teil. Das ist auch vielfach nicht bekannt. Aber das ist Stand der Medizin. Das ist auch in den gültigen Leitlinien so festgestellt, das ist Wissensstand.

[CP und VS bekommen Kaffee und nehmen einen Schluck.]

CP: Ja, so eine Folie fehlte natürlich total in dem Gesetz. Darüber hat überhaupt niemand gesprochen. Im Bundestag hab ich keine einzige, auch selbst die guten Reden … Naja, sagen wir mal so: Wer sich da für den Schutz von Kindern ausgesprochen hat, der musste das ja auch nicht, weil damit war ja auch der Wert, die Wertschätzung vor der Intimsphäre auch eben dieser Kinder und späterer Erwachsener ja zum Ausdruck gebracht. Aber diejenigen, die eben ihre eigenen Maßstäbe auf Kinder anwenden wollten, womit man sich eben zufrieden geben muss, was einem dann als Erwachsener an Genitalien bleibt, die sind auf gar keine Details eingegangen. Sicher nicht verwunderlich. Man wollte ja auch gar nicht, dass man da so viel drüber spricht.

CP: Ja, es ist ein Tabuthema, natürlich. Also was auf eine Art und Weise … geht ja auch niemanden was an, was man in der Hose hat, oder was … Ding … das ist jetzt kein, nichts was man notgedrungen so in der Öffentlichkeit darlegt oder drüber spricht. Nur halt jetzt für die Gelegenheit, wenn's eben um so'ne Entscheidung geht vor 'nem Gericht, und dann 'nen Gesetzentwurf, der das korrigieren soll oder was auch immer … Wenn man jetzt offen rangegangen wäre, einfach 'nen Gesetzentwurf zu machen, wo einfach drauf geachtet wird, dass das Kindeswohl tatsächlich noch besser verankert wird und es nicht nur ein einzelnes Landgericht braucht, das sich da mal anders reinfuchst.

VS: Naja, 'tschuldigung, das ist ja grad' das Problem: Es geht ja um anderer Leute Genitalien. Und deswegen … Normalerweise interessiert einen nicht, was in anderer Leute Hose ist. Aber das tut man ja, indem man Maßstäbe ansetzt, die auf andere Menschen übertragen werden. Das ist ja genau das Problem. Das können wir eigentlich auch gleich von Anfang an klarstellen. Wir haben heute sehr viel Zeit, auch um sehr viele Mythen aufzuräumen. Oder sagen wir mal so: Was heißt aufzuräumen? Dazu eben Fakten zu bringen, um unter Umständen das etwas zu erhellen. Und da gehört das zum Beispiel auch dazu.

Mythos Massenphänomen

Es wurde oft gesagt, dass das ja ein Massenphänomen sei und das sei ja so doll verbreitet. Das stimmt auch und das ist nicht … überhaupt kein Thema von Minderheiten in Deutschland alleine, sondern das geht quer durch alle Gesellschaftsschichten, also zum Beispiel Betroffene wie ich … gehören eigentlich zur größten Gruppe von Betroffenen in Deutschland, die aus medizinisch eben meist sehr fragwürdiger Indikation diesen Teil des Genitals verloren haben, der ihnen abgeschnitten worden ist. Das ist auch ganz wichtig. Das ist ein großer Mythos, dass es hier irgendwie um Mehrheiten und Minderheiten geht. Das geben die Zahlen einfach gar nicht her.

Und ein weiterer Mythos ist eben, dass es eben ein Massenphänomen ist, in der Hinsicht, dass dieses Massenphänomen eben ausschließlich dadurch zustande kommt, dass Menschen um ihre Selbstbestimmung gebracht werden, dass man es an Kindern ausführt. In allen Gesellschaften, wo Genitalverstümmelungen - egal, an wem - nicht zu den gängigen Riten gehören, die man an Kindern vollführt, sind das totale Randphänomene, wie andere kosmetische Operationen auch. Ein Massenphänomen entsteht immer nur dadurch, dass die physische Überlegenheit letztlich ausgenutzt wird. Das ist auch ein Fakt. Also das Argument, was gebraucht wird, um die angebliche Gewöhnlichkeit des Ganzen darzustellen, ist in Wirklichkeit ein trauriges Zeichen für massenhaften Zwang. Das ist die erste Voraussetzung, dass es [ein] Massenphänomen ist.

CP: Ja, man würde davon ausgehen, dass, wenn das alles auf 'ner Freiwilligkeit beruhte, dass halt wesentlich weniger vorkommen würde.

VS: Das ist Fakt. Das ist in allen Gesellschaften so, das ist gar keine Frage. Das kann man ja ablesen.

CP: Es ist ja auch 'ne komische Frage: "Möchtest du mündiger Bürger, dass ich an deinem Genital rumschneide, was medizinisch nicht indiziert ist?"

VS: Ja gut, das macht man dann halt selber, wie andere kosmetische Operationen auch, in mündiger Eigenentscheidung. Und da gibt's ja alle möglichen Sachen. Und da wären wir wieder bei dem, was du gesagt hast: Natürlich, da geht mich nämlich überhaupt nichts an, was in anderer Leute Hosen ist. Das stimmt.

Mythos kontra oder pro Beschneidung

Da sind wir schon beim nächsten Mythos, wo ich jetzt grad dran denke, sag ich jetzt, dass es etwas mit kontra oder pro Beschneidung zu tun hat, was wir als Verein zu tun haben. Das hat es natürlich auch nicht. Ich bin weder pro noch kontra Vorhautamputation, oder wie man das auch immer nennen will - Vorhautamputation ist der neutrale Begriff, weil da etwas irreversibel abgeschnitten wird; amputare heißt ringsherum abschneiden. Ich könnte auch "Vorhautentfernung" sagen, "Vorhaut abschneiden" gibt's nicht so richtig in Deutsch. In Englisch dieses "cutting" zeigt das deutlicher. Medizinisch sagt man Zirkumzision. Das kann jeder machen, wie man will. Das geht mich überhaupt gar nichts an. Das wär' kein Thema, [und] wir würden diese Sendung heut' nicht machen, wenn das wie andere kosmetische Operationen nur in mündiger Eigenentscheidung passieren würde. Die Sendung müssen wir nur machen, weil eben diese mündige Selbstbestimmung übergangen wird. Es ist also … Das Thema ist nicht "Pro - Kontra", wie gesagt. Ich darf es nicht beurteilen, wenn das jemand an sich gerne machen will, an sich schön findet, geht mich das nichts an. Es wäre übergriffig, zu sagen, ich bin jetzt dagegen oder das ist schlecht. Das musst du selber beurteilen.

Was mich aber was angeht - was wir mit Kindern machen, und was mit unseren Grundrechten passiert. Und die Reaktion, die auf dieses Kölner Urteil dann letztlich politisch umgesetzt wurde am 12. Dezember, heute vor neun Jahren, war ja eben grade eine Rechtlosstellung, eine Grundrechtseinschränkung für Kinder ab Geburt, je nachdem, wie sie zwischen den Beinen aussehen.

CP: Das noch dazu! Also nicht nur, dass an den Kindern was gemacht werden darf, oder dass diese Beschneidung durchgeführt werden darf, obwohl man zum Beispiel wahrscheinlich seine Kinder nicht piercen lassen kann, ja? …

VS: Nein, natürlich nicht, darf man alles nicht.

CP: Aber das [die Beschneidung] ist in Ordnung … Sondern, dann auch noch, dass das damit einhergeht, dass das nur Jungens passiert.

VS: Genau. Wir müssen wirklich den Gesetzestext mal angucken, oder?

CP: Schauen wir mal rein.

VS: Den haben wir ja jetzt noch nicht angeguckt in der zweiten Version, glaub ich, oder im zweiten Anlauf.

CP: Genau.

[Grafik Gesetzestext § 1631d BGB]

VS: Ja, im 1631 im Bürgerlichen Gesetzbuch ist eigentlich das Recht der elterlichen Personensorge dargestellt und auch das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung, seit dem Jahr 2000. Das war auch übrigens gegen einigen Widerstand … ist das damals.

CP: Das war "Die berühmte Watsch'n hat noch keinem geschadet."

VS: Richtig. Und da gingen auch ganz ähnliche Sätze durch den Äther wie 2012 nach dem Motto, man würde ja jetzt Eltern kriminalisieren und man meint das ja alles gar nicht so. Und genau, was du sagst: "Es hat noch keinem geschadet." Trotzdem hat sich damals politisch durchgesetzt, hier eine grundsätzliche Haltung einzunehmen. Die hat natürlich nicht dazu geführt, dass jetzt massenhaft Kinder ihre Eltern dann angezeigt haben. Nein, das ist nicht passiert. Trotzdem hat der Staat grundsätzlich dargestellt: "Das geht nicht, das ist Unrecht."

Und spätestens seitdem ist jegliche Überschreitung der Grenze "Körperverletzung" an Kindern verboten. Auf der Basis konnte auch das Kölner Urteil überhaupt gefällt werden.

CP: Schon interessant, dass man sowas überhaupt feststellen muss im Gesetz, sondern dass das nicht von vornherein klar war. Aber das ist das …

VS: Oh - nee, das war gar nicht … Das Züchtigungsrecht, also das hat's lange gegeben. Ich hab das auch nochmal nachgeforscht; das ist sehr interessant. Also nach dem zweiten Weltkrieg war das ja nur dem Vater erlaubt, das Kind zu züchtigen. Dann, die erste Veränderung war, dass das auch Mütter durften. Also das war also nicht so, dass das Kind geschützt wurde, sondern dann durften beide Eltern ran. Und ab dem ging es dann stückweise immer in Richtung Kinderschutz, bis im Jahr 2000 einfach das völlig klar ist.

Vor allem - ganz wichtig - die Sozialadäquanz. Also der Faktor, dass man irgendwas schon ganz lange gemacht hat, dass es so'ne Art Gewohnheitsrecht gibt, das es "noch keinem geschadet hat", all' solche Dinge, die fielen raus. Das heißt, das Kind wurde selber wirklich ganz klar als Rechtssubjekt hervorgehoben, und unabhängig von der Motivation, warum man "das" tut. Das ist ganz, ganz wichtig. Deswegen sagen wir auch immer: "Eine Kinderrechtsverletzung grundsätzlich, ob es sich um eine handelt, entscheidet sich danach, was mit dem Kind passiert, und nicht, was Erwachsene dabei denken."

Das ist unser Recht gewesen bis zum 12.12.2012, uneingeschränkt, und dann kam dieser Paragraph. Den müssen wir jetzt mal durchgehen.

Seitdem heißt es dann:

Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll.

"Soll" - komisch, oder? Warum steht da nicht "durchgeführt wird"? Da steht "soll".

Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird.

Da gibt's also eine Einschränkung. Wann ist denn das Kindeswohl gefährdet? Oder ich würd' ja auch immer sagen, das Erwachsenenwohl, denn die Vorhaut ist nicht auf einmal wieder dran, wenn man erwachsen ist und sexuell aktiv wird. Was ist eigentlich mit meinem Erwachsenenwohl, mit meinem Recht auf eine erfüllte Sexualität? Oder auf das Entdecken meines vollen Sexualpotenzials, wozu vielleicht auch meine vollständigen Genitalien gehören.

CP: Gibt's denn da konkret tatsächlich 'nen Sachbestand, Tatbestand oder sowas, wo das wäre, wo man sagt: Okay, das geht jetzt nicht, weil das Kindeswohl gefährdet ist? Oder ist das letztlich 'n leerer Satz?

VS: Neenee, das gibt's schon. Also Kindeswohlgefährdung ist ja absolut, was in der Rechtsprechung auch passiert. Zum Beispiel, wenn Kinder aus Familien genommen wegen Misshandlung und so, das gibt's, ja.

CP: Ja, aber jetzt im Bezug auf die Beschneidung, also …

VS: Nein, da gab's noch kein Urteil zu, wo ein Richter diese Karte gezogen hätte. Aber sie ist da.

CP: Ja, sie ist da, aber wenn ich im Vorhinein feststelle, dass eine Beschneidung nicht grundsätzlich das Kindeswohl gefährdet, dann ist doch eigentlich ein bisschen so'n Plazebo-Satz da, wo man sagt, den haben wir jetzt noch mit reingeschrieben, falls jemand sagt, wir achten nicht auf das Kindeswohl. Aber letztlich … wenn das nicht reicht, um das Kindeswohl zu gefährden, was soll denn überhaupt noch passieren dabei? Also …

VS: Ich warte auf die Richter, die das anwenden, die seriös sind und sich mit der Materie so befassen, dass sie das gut begründen. Ich find's gut, dass der Satz drin ist. Ich find's eigentlich auch ganz erstaunlich.

CP: Ja. Wo ich eigentlich auch nochmal drauf zurückkommen wollte: Wir haben jetzt gehört, ab 2000 stand eben das Kindeswohl im Gesetz. Und trotzdem hat's auch da wieder zwölf Jahre gedauert, bis sowas aufgrund einer Beschneidung passiert ist, dieses Urteil. Es hat ja mit Sicherheit die Jahre zwischen 2000 und 2012 auch genügend Komplikationen gegeben, die unter Umständen hätten vor Gericht landen können. Aber das war Zufall, oder ist das einfach …

CP: Ja, das ist ja oft so, dass letztlich Rechtsprechung gesellschaftliche Entwicklung und vor allen Dingen so Klarwerdungsprozesse voranlaufen. Und das war da auch so, das war ja schon länger Thema, auch in juristischen Fachkreisen. Da gab's Artikel zu, in der Medizin wurde das zunehmend diskutiert.

Unsere Rechtsgeschichte ist voll von Dingen, die Jahrzehnte lang bestanden und auf einmal an neuen Erkenntnissen, ethischen Entwicklungen man merkt, was wir da tun, wird eigentlich unseren rechtlichen Ansprüchen gar nicht gerecht. Man muss sich mal vorstellen, sowas wie "Die Würde des Menschen ist unantastbar" steht ja im Grundgesetz, und wann wurde der 175er abgeschafft? Wieviel Jahrzehnte hat man gebraucht, dass also die freie Auslebung von einvernehmlicher Sexualität … eigentlich der … wenn man das nicht … wurde sogar mit Strafe eben bedroht, dass das eigentlich die Würde des Menschen verletzt. All das gibt's ganz oft. Und eine solche Entwicklung haben wir eben hier auch gehabt, die letztendlich dann zu dem Kölner Urteil geführt hat. Es hätte auch fünf Jahre vorher oder ein paar Jahre später sein können.

CP: Na, dann warten wir jetzt auf so'ne Entwicklung, dass irgendwann auch der zweite Satz im ersten Absatz dann in 'nem Urteil mal 'ne Rolle spielt. Wir gehen nochmal auf die Folie für den zweiten Absatz …

[Grafik Gesetzestext § 1631d BGB]

VS: Ja, der ist auch interessant. Da geht's eben darum, religiöse Rituale bei sehr kleinen Babys durch Nichtärzte zu erlauben. Das geht ja eigentlich gar nicht. Operationen in Deutschland machen Ärzte, niemand sonst. Bis zum 12. Dezember 2012 war das auch so. Seitdem dürfen das, wenn Kinder einen Penis haben und Erwachsene die Vorhaut abschneiden wollen, können das auch von Religionsgesellschaft[en] dafür vorgesehene Personen machen, die …

dafür besonders ausgebildet sind und, ohne Arzt zu sein, für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt sind.

Das ist auch sehr interessant, weil erstmal gar nicht gesagt wird, was die Beschneidung ist; das wird im ganzen Gesetz nicht beschrieben. Wieviel von was wird da eigentlich abgeschnitten? Und für eine Operation braucht man 'n Arzt. Hab ich ja eben schon gesagt. Und etwas gleichbar Befähigtes wie einen Arzt für eine Operation, das gibt es überhaupt gar nicht. Also das hat man erfunden, um dem irgendwie Genüge zu tun, diesem Bedürfnis. Und man … Da steht ja auch "Wer definiert männlich?" Das hat auch keiner definiert.

CP: Ja, aber wie will man sowas vergleichen? Wenn man jetzt sagt, also du hast auch zwei Hände, du zitterst nicht, du bist kein Alkoholiker, du bist wach, du hast 'nen Kittel an und du hast das geübt, …

VS: Nee, es kommt auf den Vorgang an, Christoph. Also, 'ne Injektion kann sicher eine Krankenpflegerin genauso gut geben wie ein Arzt.[…]

CP: […] Allerdings immer unter der Verantwortung des Arztes. Also unterschreiben für solche Sachen tut dann immer noch der Arzt. Und die MFA, oder was das in der Praxis macht, handelt quasi im Auftrag.

VS: Aber 'ne Operation und 'ne Anästhesie, die bei 'ner Operation vorgesehen ist, Standard ist … Das heißt, hier wurde ein "Substandard" eingeführt. Das ist Gesetzeslage seit 2012.

Mythos: Religiöse Beschneidungen bleiben erlaubt

Wir sehen, das ist auch ganz wichtig - nächster Mythos: [Es] steht immer wieder [in den Medien], religiöse Beschneidungen blieben erlaubt in Deutschland. Wieviel Sachen sind in diesem einen Satz schon falsch?

CP: Von Religion war jetzt nicht die Rede.

VS: [Davon] Sehe ich da nichts. Haben auch, denke ich, alle Zusehenden nochmal gesehen: Da steht nichts, außer was diese Befähigungsgeschichte [angeht]. Ansonsten, was die Motivation der Vorhautamputation angeht, gar nichts.

Was ist das Kriterium, dass man einem Kind eine Beschneidung, die ja auch nicht definiert ist, zufügen darf? Ja, dass das Kind männlich ist. Das ist die einzige Einschränkung. Was männlich ist, erfährt man auch nicht. Das steht da auch nicht drin.

Aber von religiöser Beschneidung da nichts. Das ist kein Kriterium. Das hat der Gesetzesgeber natürlich auch gewusst, dass es kein Kriterium ist. Weil die Religionsfreiheit nicht so weit geht, dass man andere Menschen verletzen darf. Also das ist deswegen: Wenn man das behauptet, ist es deswegen schon falsch. Das kann man gar nicht erlauben. Also die Religionsfreiheit geht einfach nicht so weit. Und der Beweis dafür ist, dass ja selbst der Gesetzesgeber, der ja sehr gewillt war, das zu erlauben, [das] nicht so in eine solche Gesetzesform gegossen hat, sondern in das Gesetz der Personensorge, weil man natürlich sagen könnte, es geht natürlich auch nicht … Erziehungsrecht … Spätestens seit 2000, haben wir ja gelernt, darf man auch nicht, keine Gewalt mehr anwenden. Alles, was die Körperverletzungsgrenze überschreitet, ist verboten. Aber da war das zumindest mal so, dass Eltern solche Entscheidungen getroffen haben und ja auch in zum Beispiel medizinisch notwendige Körperverletzungen rechtsgültig einwilligen dürfen.

Aber auch da geht's eigentlich nicht, aber das war sozusagen "das kleinere Übel". Aber damit ist das eben - wichtig - aus jeglichem Grunde erlaubt. Es gibt keine Einschränkungen in der Motivation. [Das einzige] Kriterium ist: männlich.

CP: Es ist auch wirklich … "Die Personensorge umfasst auch das Recht, […] einzuwilligen." Also ich hab das Recht, einzuwilligen. Das klingt ja dann so, als ob jemand anders das machen würde und ich willige ein dazu. Aber es ist ja nicht so. Sondern in dem Fall ist die Personensorge, die das Recht, also das Recht, dann in diese Operation einzuwilligen, ist ja mein Wille, in den ich einwillige.

VS: Ja, stellvertretend. Das ist nämlich auch nochmal wichtig. Das Erziehungsrecht ist ja kein absolutes Recht, sondern ein stellvertretendes. Das ist auch nochmal anders bei der Religionsfreiheit zum Beispiel: Das ist mein Recht auf, mein Grundrecht auf Bekenntnis und auf Ausübung meiner Religion. Der Unterschied - das Erziehungsrecht ist ein stellvertretendes Recht. Also das kann natürlich auch nicht so weit gehen. Es ist ein Hilfskonstrukt.

Man kann sagen, die Mitarbeitenden im Justizministerium, die diesen Sommer 2012 die Aufgabe bekommen haben, diesen politischen Willen in ein Gesetz zu gießen, die waren echt nicht zu beneiden. Weil, wie will man das machen? Und das Ergebnis ist ja auch jämmerlich, wie man sieht. Das versteht eigentlich jeder.

CP: Es hat aber jetzt nach neun Jahren noch keiner irgendwie geschafft, dass das mal rein auf 'ne Verfassungskonformität oder auf sonstige Standards hin geprüft wird, ob das 'n vernünftiges Gesetz ist.

VS: Ja, weil es sehr hohe Hürden in Deutschland gibt, Gesetze zu prüfen auf Verfassungsgemäß[heit]. Das könnte eine Landesregierung machen, oder ein Viertel des deutschen Bundestages, mit einer sogenannten Normenkontrolle. Kam aber bisher noch nicht zusammen. Oder ein Betroffener selber von dem Gesetz müsste sich durchklagen mit Erreichen des 18. Geburtstags, wo die Tat eigentlich verjährt ist. Das ist ja auch das Schlimme. Warum ist sie verjährt? Weil das betroffene Kind ein Junge ist. [Wenn's] ein Mädchen wär', wäre's nicht verjährt. Also, es war ganz klar auch immer das Ziel, das war auch damals in Ausschüssen so, ich war auch in Sitzungen unterwegs damals, es ging auch ganz klar darum, eben die Klagemöglichkeit der Betroffenen zu erschweren, fast unmöglich zu machen. Man kann natürlich immer klagen. Die Fragen sind: Welche Erfolgsaussichten hat man? Und die sind eben dadurch sehr erschwert worden, weil das, was da dann an einem passiert ist, eben erlaubt ist. Es ist erlaubt - seit diesem furchtbaren Tag.

Das ist auch immer wieder schlimm - das muss ich auch so grundsätzlich sagen für uns auch als Vertretung von leidvoll Betroffenen, diesen 12. Dezember zu erleben, weil einem das immer wieder bewusst wird, was damals eigentlich passiert ist: also diese Entwürdigung des eigenen Intimbereichs; diese Machtlosigkeit, die da zu verspüren war; dass man da letztendlich auch nichts tun konnte, weil eben […] die entscheidenden Eliten in diesem Land in Politik und Medien sich im Wesentlichen einig waren.

Natürlich gab's auch deutlichen Widerstand. Es gab immerhin einhundert Abgeordnete des deutschen Bundestages aus dem demokratischen Spektrum - es gab damals ja noch keine AfD im deutschen Bundestag - die Nein dazu gesagt haben, und das sind auch einige, die heute noch im Bundestag sind. Wir gehen ja nachher auch noch viele Personen durch. Das ist auch sehr wichtig. Ja, weil die Personen ja in Verantwortung stehen für das, was sie damals gesagt und entschieden haben, weil eben die Folgen bis heute ganz konkret für die Betroffenen ja andauern und jeden Tag weitergehen.

Ja, wie machen wir weiter? Vielleicht [damit,] was danach passiert ist. Denn es gibt … Also bis dato, bis zu diesem [12.12.2012], gab es ja überhaupt kein Sondergesetz zu dem Thema. Es gab allerdings schon ganz lange Forderungen von Frauenrechtlerinnen, insbesondere weibliche Genitalverstümmelung zu verbieten. Und das ging Jahre lang durch die politische Landschaft mit auch ähnlichen Begründungen damals, immer wieder erschwert, dass man sagte, man mische sich in andere Kulturen ein und das sei alles ganz schwierig und so.

Und dann komischerweise ein halbes Jahr, nachdem Jungs schutzlos gestellt wurden, da gab's dann auf einmal das Strafrechtsverbot, [das] strafrechtliche Verbot von allen Formen weiblicher Genitalverstümmelung. Ich glaube ja, dass diese zeitliche Abfolge kein Zufall ist, weil natürlich viele Interessenverbände auch von Frauenrechten nervös waren, weil die ja auf einmal leibhaftig erlebt … also nicht leibhaftig, aber wir alle [in] der Gesellschaft erlebt haben, wie auf einmal Menschenrechte teilbar wurden und wieder diskutiert werden konnten. [Dass] sie eben nicht mehr universell galten, sondern [dass die Menschen anfingen] zu diskutieren, wieviel darf man eigentlich bei wem abschneiden, dass das noch okay ist, und so …

Also das war ja unglaublich. So'ne Diskussion hat es ja vorher in dem Sinne noch nie gegeben. Und um das dann schnell zu beruhigen, denk' ich, war das mit ein Impuls - das kann kein Zufall sein - dass es dann im Juni des Jahres darauf eben diesen Strafrechtsparagraphen gab. Den können wir auch mal durchgehen.

CP: Den leg ich mal auf, den 226a.

§ 226a StGB

[Folie StGB § 226a]

VS: Genau. Da steht dann eben:

Wer die äußeren Genitalien einer weiblichen Person verstümmelt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. In minder schweren Fällen ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen.

Was ist denn hier interessant?

CP: Also es ist wiederum … dadurch, dass hier weniger Text auf der Folie steht, springt's noch schneller ins Auge, dass überhaupt da steht: "eine weibliche Person". Also dass da dieser Unterschied gemacht wird, wo man …

VS: Ja, männlichen, was hattest Du? … Zwischen "männlichen Kindes" und hier "weiblicher Person". Also da scheint das Alter keine Rolle zu spielen. Und ich finde interessant: "Verstümmelung". Da steht auf einmal "Verstümmelung".

Verstümmelung - [da] gibt's 'ne Definition für, 'ne offizielle, die heißt: "Die als negativ empfundene, radikale Veränderung des Körpers durch äußere Einwirkung … kann [sowohl] für den Vorgang als für das spätere Ergebnis stehen."

Da steht "… die als negativ empfundene …". Das wissen wir überhaupt gar nicht. Das können wir auch nicht wissen und es ist übergriffig, das für jede Person erst einmal vorzubestimmen, dass die sich verstümmelt fühlt, wenn ihnen was passiert. Wir wissen hier ja auch nicht, was passiert ist. Also Verstümmelung wäre jetzt die radi… Also nur wenn … Eigentlich wär' hier ja quasi eine Einschränkung: Also nur wenn du dich davon … wenn du die als negativ empfindest, war das ein Straftatbestand.

CP: Dann gilt diese, genau. Ansonsten …

VS: Was ich ganz, ganz schlecht finde, … find' ich ganz, ganz schlecht, denn unabhängig davon, wie eine Person vielleicht nachher das für sich deutet, was ihr passiert ist, was ihre Privatsache ist, was mich nichts angeht, das da … Davon darf ja nicht abhängen, ob ich als Staat sage, ich seh' das als Straftat oder nicht. Also das ist auch fragwürdig. Also ich verstehe natürlich, dass man unter Umständen durch Einführung solcher Begriffe gesellschaftliche Sensibilität für ein Thema erreichen wollte und auch erreicht hat. "Verstümmelung" wirkt stärker, um Aufmerksamkeit zu kriegen. Im Juristischen find' ich das schwierig, wenn die Definition, die es dafür gibt, eigentlich subjektive Wahrnehmung auch mit beinhaltet. Weiß ich nicht … [Das] sind auch so Fragen, die man stellen kann.

Wir haben da noch 'ne Folie [da]zu.

CP: Äh, die Begründung haben wir dazu, ja, genau.

VS: Die ist nämlich auch spannend, weil man sieht: Was heißt das eigentlich? Und dann kommen wir nämlich ein bisschen näher, wenn wir in die Begründung reingehen.

[Folie § 226a StGB Begründung]

Davon sollen die Erscheinungsformen der Beschneidung von Frauen und Mädchen erfasst werden, …

Da steht übrigens auf einmal "Beschneidung" und nicht "abschneiden" oder "Verstümmelung".

CP: Das ist mit sehr heißer Nadel gestrickt.

VS: Ich weiß es nicht. Also das war ja Jahre lang unterwegs in den Ausschüssen.

… "die von der Weltgesundheitsorganisation typisiert umschrieben sind als Klitoridektomie, Exzision" (Einschneiden, nicht?)", Infibulation" (also dieses Zunähen der äußeren weiblichen Genitalien) "sowie weitere von diesen Erscheinungsformen nicht erfasste Veränderungen an den weiblichen Genitalien, wie Einschnitte," (Einschnitt wär' zum Beispiel ohne Gewebeverlust) "Ätzungen oder Ausbrennen."

Das stimmt. Die WHO hat vier verschiedene Typisierungen. Und die haben eine große Bandbreite, also von gar kein Gewebeverlust bis zu eigentlich alles Äußere weg und Zunähen. [Das ist] 'ne Riesenbandbreite, die aber alle unter dem Begriff "Verstümmelung" zusammengefasst werden, laut WHO. Machen die, unabhängig davon, was wir vorhin gesagt haben, wie eigentlich die Definition von Verstümmelung ist. Und jetzt schreibt er auch noch, der Gesetzgeber, dazu bei uns:

Für die Erfüllung des Tatbestandes ist es gleichgültig, in welcher Weise die Genitalverstümmelung vorgenommen worden ist.

Wir haben ja nun gerade gelernt bei Jungs, dass das ganz wichtig ist, das darf man und das darf man nicht und so weiter. Hier sagt man auf einmal: Völlig egal. Verstümmelung. Interessant, nicht?

CP: Das war ja dann, drei Monate danach, nochmal ein Schlag ins Gesicht.

VS: Sechs Monate danach. - Jein. Auf der Seite fanden wir auch immer gut, wenn mehr Kinder geschützt sind, grundsätzlich. Auf der anderen Seite muss man natürlich sagen, die waren ja vorher auch geschützt, weil ja schließlich das Recht auf gewaltfreie Erziehung sowieso galt. Das ist ein Verstärkung nochmal gewesen. Da wir sie auch ein bisschen als Abgrenzung verstanden haben der Schutzlosstellung von uns, war das schwer zu ertragen in der Hinsicht, das stimmt, ja.

Und man muss natürlich auch sagen: Jedes Gesetz, das Kinder erstmal mehr schützt, ist an sich zu begrüßen. Wenn dieser Schutz aber dann an Voraussetzungen gekoppelt ist, dass du so und so aussehen musst, sonst gilt der Schutz nicht, ist dieses Gesetz natürlich auch gleichzeitig diskriminierend. Das ist so. Das kann man auch nicht von der Hand weisen. Also, das wär' historisch zum Beispiel: Im deutschen Reich wurde ja irgendwann ein Wahlrecht eingeführt, aber das galt nur für Männer. Nur für manche Männer auch noch. Und dann irgendwann gab es erst Frauenwahlrecht und dann durften auch alle Männer wählen. Und dann kann man ja sagen: Bei dem ersten Mal, wo's überhaupt 'n Wahlrecht gab, kann man [ja sagen, das] war ja gut, dass überhaupt mal Leute wählen durften, nicht? Aber es war gleichzeitig diskriminierend gegen alle, die nicht wählen durften. Ich glaube, das ist 'ne Analogie, die jeder versteht. Und die haben wir hier eben auch. Seit dann, seitdem, seit dem Juni 2013 hatten wir dann eben ein Zwei-Klassen-Genitale-Selbstbestimmung-Kinderrecht in Deutschland.

CP: Was sind denn … was waren denn die Reaktionen dann? Also das Gesetz wurde verabschiedet am [12.12.2012]. Und dann wird ja mit Sicherheit … also irgendwann macht man ja mal 'ne Bestandsaufnahme oder was, was passiert - also das, außerhalb von euch jetzt, oder - also man sagt, nicht nur die Betroffenen, sondern auch irgendwie in den Medien oder so … Es muss ja nochmal irgendein Echo stattgefunden haben.

Stellungnahme DAKJ

VS: Ja klar. Wir können ja mal ein paar Stellungnahmen, ein paar Zitate durchgehen, was da so von außen kam. Lass uns doch mal - das finde ich nämlich echt sehr wichtig - was die DAKJ, die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin, gesagt hat dazu. Also da gibt es eine sehr umfangreiche Stellungnahme. Wo haben wir die denn? Hab ich die hier, oder hast du die?

CP: Ich hab sie als Folie, und wenn du sie auch hast …

VS: Da hab ich sie! Also, und zwar war das zu der sehr wichtigen Entscheidung des Rechtsausschusses am 26.11.2012 im Deutschen Bundestag. Und die war sehr ausführlich. Unter anderem waren da 1.800 Komplikationen in einer Zeitspanne vom 01.01.2010 bis 10.11.2012 aufgezählt, detailliert, für die Bundestagsabgeordneten … Also das haben die auch alle gewusst, auf den Tischen liegen gehabt. Und ich habe hier eine Folie ausgesucht, die [ich] besonders exemplarisch finde, weil sie jetzt nicht primär nur medizinische Fakten bringt, sondern auch eine Medizinethik ins Spiel bringt. Und zwar, da heißt es:

[Folie Stellungnahme DAKJ]

Eltern können hier ihre Einwilligung nicht stellvertretend für das Kind geben, da der Eingriff medizinisch nicht notwendig ist und die Eltern überhaupt nicht beurteilen können, welche Ansprüche an die Intaktheit seiner Körperoberfläche und seine sexuelle Erfüllung der Junge später hat oder nicht. Eigene Erfahrungen können hier kein Maßstab sein.

Ich find das einen ganz tollen Absatz, weil er so viel Respekt ausdrückt, einfach sagt: Ich weiß es nicht, es steht mir nicht zu. Und das sagen Mediziner, knallharte Mediziner. Das ist jetzt kein esoterischer Verband oder so - sondern die einfach sagen: Das kann man nicht tun, das dürfen wir nicht. Und um diese Respektdebatte geht's ja bei diesem Thema auch ständig. Wem dürfen wir eigentlich wie zu nahe treten? Und [die] Intimsphäre von anderen Menschen ist eben ein Tabu. Also, das ist eigentlich auch etwas Schönes. Das ist ja nicht schwer, darauf zu verzichten, sondern das sollte eigentlich auch ganz normal sein. Das haben die damals klar zum Ausdruck gebracht.

CP: Es wurde jetzt also nicht nur auf die Betroffenen nicht gehört, sondern auch auf die, die sich ansonsten damit beruflich beschäftigen. Also jetzt, heute beklagt man das, dass zu wenig Vertrauen in die Wissenschaft steigt, aber das war damals offensichtlich auch schon so: Wenn's mir nicht passt, dann hör' ich nicht auf die Wissenschaft, sondern, jetzt platt gesagt …

VS: Naja, momentan ist ja der Bundestag in vielen Bereichen doch so, dass sie sich sehr auf Wissenschaft berufen. Und da klingelt's mir natürlich immer in den Ohren, weil ich weiß, wie das damals in den Wind geschrieben wurde. Man muss sich das überlegen: Diese Stellungnahme war ja wirklich abgestimmt mit der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin, der Dachorganisation aller pädiatrischer Verbände in Deutschland. Also die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin. Die haben das zusammen verfasst, veröffentlicht.

Und hier ist auch wirklich der Satz drin: "Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist nach kinder- und jugendärztlicher Sicht strikt abzulehnen." Das steht hier drin. Das kann man immer noch durchlesen. Also das könnte man eigentlich heute, neun Jahre später, könnte man das genauso wieder veröffentlichen und es hat an seiner Gültigkeit nichts verloren. Da steht etwas viel zur Anatomie drin, da wird endlich mal das Organ beschrieben. Da wird einfach gesagt, was da passiert, um was es eigentlich geht. Da wird auch über Leid von Betroffenen berichtet. Das steht da alles drin. Hat jeder gewusst. Man musste schon ganz bewusst sagen, dem geb ich in dieser Thematik keine Priorität.

Besonders schlimm ist daran, dass sogar eine Überprüfung dieses Gesetzes aktiv abgelehnt worden ist. Dazu muss man wissen, dass es absoluter Standard ist, dass Gesetze, die medizinische Fragen betreffen, evaluiert werden. So nennt man das ja, also überprüft werden nach einer gewissen Anzahl von Jahren. Und dass eigentlich auch sofort in dem Gesetz festgelegt wird, wann das passiert. Weil man ja ein Interesse daran hat, den aktuellen Wissensstand weiter zu verfolgen, eventuell auch Forschung in Auftrag zu geben, zu finanzieren, damit sich die Gesetzgebung eben an Wissenschaft orientiert. Wobei wir wieder bei dem sind, aktuell gerade: genau, an Wissenschaft orientiert.

Da gab es einen Änderungsantrag von einigen SPD-Abgeordneten, der das vorsah. Und dieser Änderungsantrag ist abgelehnt worden.

CP: … mit den gleichen Stimmen, mit denen das ganze Gesetz verabschiedet wurde? …

VS: Ich weiß nicht, das konnte ich nicht mehr herausfinden, wie da die Stimmverteilung war. Auf jeden Fall war der auch sofort wieder weg vom Tisch. Und das find' ich im Nachherein eigentlich noch das Unglaublichste von allem. Denn dass das vorher alles schnell ging und man nicht viel Sand im Getriebe wünschte, irgendwie dieses Ziel, was man ja anvisiert hatte, irgendwie vielleicht zu gefährden. Das ist die eine Sache. Die andere ist auch, dass man das für die Zukunft auch noch gleich festgeschrieben hat, dass man da nie wieder ran will, um das vielleicht einmal zu überprüfen.

Und ich finde es so politisch so unglaublich, weil das ja eigentlich auf dem Silbertablett wirklich für die Abgeordneten das Zeichen gewesen wäre, dieses Gesetz, sich über diese Entscheidung zumindest zu enthalten. Zu sagen, okay, in Gottes Namen würde ich dem grundsätzlich nicht im Wege stehen. Aber wenn man aktiv sagt, man will nie wieder wissen, was damit eigentlich ist, obwohl es um Kinder geht und man ja gleichzeitig auch in vieler[lei] Hinsicht auch immer wieder beklagt, es gäbe dazu relativ wenig Wissen und Infos und wenig Studien. Ja, dann müsste man ja eigentlich erst recht ein Interesse an Überprüfung haben.

Und dann zu sagen, man stimmt dem trotzdem zu …

CP: Ist ja eigentlich auch 'ne Sicherheit für mich, zu sagen: Okay, ich mach' jetzt was, aber wenn ich hinterher eines Besseren belehrt werde, da hab ich irgendwann die Chance, oder besteht die Chance, das automatisch korrigiert wird, auf 'ne Art und Weise?

VS: Ja. Ja, genau. Und dafür gibt's für mich dann entgültig keine Entschuldigung mehr. Auch nicht für den Herrn Bundespräsidenten, Herrn Gauck, der das dann in der … zwischen den Jahren … ich glaub, am 28.12.2012 mal eben unterschrieben hat. Er hätte das zurückgeben müssen! Sowas kann man nicht so machen! Das ist einfach so passiert. Und keine Evaluation, bis heute nicht. Jegliche Vorstöße, irgendwie auf parlamentarischer Ebene überhaupt darin ein bisschen tätig zu werden, sind bisher im Keim erstickt worden. Ich hab dazu ja auch Gespräche geführt. Wir von MOGiS haben dazu versucht, immer wieder über diesen Weg wenigstens mal ins Gespräch zu kommen. Das will bisher niemand. Und ich finde, das ist wirklich die absolute ethische Verpflichtung, wenn ich für so etwas Mitverantwortung trage, der letztendlich auch seriös gerecht zu werden, wenigstens das mit zu unterstützen und einzuleiten.

Komikernation

CP: Wer … also das muss man jetzt schon mal fragen … natürlich, wir haben 16 Jahre Merkel jetzt gehabt. Also das ist natürlich alles unter Merkel-Regierung gewesen. Ich erinner' mich auch, sie hat sich einmal geäußert … Da ging's um die "Komikernation" …

VS: Ja, wir können das ruhig sagen. Sie hat gesagt, Deutschland würde sich ja zur Komikernation machen, wenn man das verbieten würde. Das war alles. Find' ich - entschuldige, wenn ich dich unterbreche - aber auch unsere frühere Kanzlerin hat doch auch immer sehr dieses Image gehabt, dass sie sehr kühl und sachlich entscheidet, wissenschaftsbasiert ist, sie sei ja selber Naturwissenschaftlerin. Das war das Einzige, was sie zu diesem Thema gesagt hat. Kann man vielleicht verstehen, dass uns das immer wieder auch triggert und trifft, wenn sich die gleichen Leute dann in anderen Zusammenhängen so besonders als sachlich und wissenschaftsbasiert und so weiter darstellen oder dargestellt werden? Dass sie auf diesen Widerspruch auch nicht hingewiesen werden? Dass da nicht nachgefragt wird: Ach so, interessant, auf einmal. Was war denn damals, warum …? Es ist ja schön und gut, aber warum sehen Sie da keinen Widerspruch?

Dass die damit durchkommen, das ist immer wieder schlimm …

CP: Da sind ja auch einige andere, die damit durchgekommen sind. Also, es wurde ja auch über alle Fraktionen hinweg verabschiedet, das ist ja … Gab's Fraktionszwang zu dem Zeitpunkt?

VS: In der Regierungskoalition aus CDU und FDP ja. Und die haben ja auch da ziemlich geschlossen für dieses Gesetz gestimmt. Und in den anderen Parteien gab's keinen Fraktionszwang.

CP: Aber es gab trotzdem genug Abgeordnete, die - anders als bei anderen Gesetzen, die die Regierungsmehrheit vorlegt oder sowas - wurde ja parteiübergreifend zugestimmt. Also das ist ja mit 'ner großen Mehrheit passiert.

VS: Ja. Ja, die Hälfte der Grünen-Abgeordneten haben auch zugestimmt und aber [eine] Minderheit nur der Linkspartei. Also die Linksfraktion war die einzige, die das mehrheitlich abgelehnt hat.

Alternativvorschlag

Und es gab ja auch einen Alternativvorschlag, das muss man sagen, der eben da einen Kompromiss vorgeschlagen hat, das ab vierzehn zu erlauben. Was eben auch ein Kompromiss war, weil man mit vierzehn Jahren normalerweise keine völlig nicht medizinisch indizierten Eingriffe vollziehen kann. Also das wär' auch schon 'ne deutliche Legalisierung gewesen und auch man sagen kann: Mit vierzehn sind auch nicht alle Jugendlichen so stark, sich auf Druck aus sozialem Umfeld wirklich zur Wehr zu setzen. Aber es war eben so in der Eile ein Kompromiss, ein Entgegenkommen, zu sagen: Okay, man sagt jetzt nicht achtzehn, was natürlich normalerweise selbstverständlich wäre. Man darf ab achtzehn erst ins Sonnenstudio, weil man sagt, Jugendliche können die Spätfolgen von sowas, die gegebenenfalls eintreten können, noch nicht überschauen. Beim Abschneiden von Teilen von Genitalien hätte man sich dann schon auf vierzehn geeinigt. Damit hatten wir auch ganz schön Bauchschmerzen, aber …

CP: … es wäre besser gewesen als das, was da jetzt liegt …

VS: Absolut! Da ist man sehr stark zugegangen auf die politische Initiative, das völlig zu legalisieren. Aber das nur eben 100 Ja-Stimmen erreicht.

CP: Aus aktuellem Anlass, weil wir haben ja gerade eine neue Regierung: Wen haben wir denn in der Regierung, der damals in irgendeiner Form beteiligt war oder mit abgestimmt hat? Und die andere Frage wäre: Erhoffst du dir von der neuen Regierung auch da, dass da vielleicht irgendwas in Bewegung kommt, was jetzt einfach die letzten 16 Jahre nicht mehr in Bewegung gekommen wäre?

VS: Also, zum Ersten kann man sagen … Wer ist da jetzt? Zum Beispiel unser jetziger Justizminister, Herr Dr. Buschmann. Er hat damals für das Gesetz gestimmt.

CP: FDP, ja?

VS: FDP. Ja. Also, [er] ist Jurist und hat so einem Gesetz zugestimmt. Das Gesetz ist mehrfach verfassungswidrig: [Es] verletzt das Recht auf körperliche Unversehrtheit, auf Gleichberechtigung, Gleichheit der Geschlechter. […] Es ist natürlich diskriminierend …

CP: Ja, also aus der juristischen Ecke gibt's ja niemanden, der das Gesetz in irgendeiner Form feiert.

VS: Ooch, naja. Also 2012 gab's da natürlich auch Leute, …

CP: … die es verteidigt haben vielleicht, aber …

VS: Ja. Seitdem sind die alle ziemlich verstummt. Die äußern … Wir haben ja auch manchmal Juristen, die das befürwortet haben, eingeladen zu Veranstaltungen. [Die] sind dann aber nicht gekommen. Also, [das] kann ich auch verstehen. Ich würd' mich damit heute auch nicht mehr hinstellen. Aber das Schlimme ist eben: Sie haben Verantwortung. Sie müssten sich der ja eigentlich stellen. Sie müssten heute öffentlich sagen: "Das war falsch. Ich entschuldige mich bei den Betroffenen dafür." Das wär' wichtig. Nee, die verstummen.

Claudia Roth

Dann in der Bundesregierung jetzt aktuell: Naja, Claudia Roth hat sich ja damals wirklich auch nicht mit Ruhm bekleckert. Wir können ja mal ihr Zitat reinholen. Das ist auch so ein trauriges Beispiel. (Beispiel 17.) Das hat sie damals verschicken lassen über ihr Büro. Das hab ich auch per E-Mail damals bekommen:

Wenn die Frage der Beschneidung allein auf den Willen der Kinder abgestellt würde, müsste das gesamte System der elterlichen Fürsorge fundamental neu geregelt werden.

Wollen wir da auch wieder so'n "Wer findet die meisten Fehler?" von machen?

[Beide lachen.]

Entschuldige, dass ich da manchmal so'n bisschen sarkastisch werde. Ich glaube, ich schütze mich davor, dass mich das zu sehr trifft, dass ich dann manchmal in so eine Haltung dann gerate.

CP: Naja, also die elterliche Fürsorge sollte ja vor allem dem Willen der Kinder dienen. Also das ist ja das, dass die …

VS: Ja, Entschuldigung, wie war die denn geregelt seit dem Jahr 2000? Und zwar - Frau Roth war da ja glaub ich auch im Bundestag, [ich] schätz' mal, sie war Teil … ich weiß nicht, sie war ja manchmal auch raus … ich bin nicht … Nee, ich glaub', sie war die ganze Zeit da. Sie wird das mit beschlossen haben im Jahr 2000, das Recht auf gewaltfreie Erziehung.

[Anmerkung IntactiWiki: "1998 wurde sie in den Deutschen Bundestag gewählt. Hier übernahm sie den Vorsitz des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe."[1]]

Was muss denn da geändert werden, fundamental, wenn man es auch anwendet? Das ist wirklich … Da kann man wirklich sich nur an den Kopf fassen.

Und das andere, was ich so krass finde, ist: "allein auf den Willen der Kinder". Es geht um das Recht auf körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung. Das wird hier …

CP: Und sie stellt's dar, als will das Kind einfach einen Lolly nach 18 Uhr essen, und das …

VS: … das wird zum Willen herabdegradiert. Grundrechte werden zum Willen herabgestuft. Also ich bin immer noch fassungslos, wie man sowas hat verschicken können.

CP: Sie hätten auch "Laune" reinschreiben können.

VS: Ja! Also auch da … Ja, seitdem haben wir von ihr zu dieser Frage nie wieder etwas gehört. Sie bekommt natürlich auch, wie alle Bundestagsabgeordneten des demokratischen Spektrums immer mal wieder Post von uns, auch zu Veranstaltungen. Ich habe noch nie eine Antwort aus dem Büro Roth bekommen nach dem Gesetzesbeschluss. Ja, das ist toll.

Was haben wir denn noch so für …

Karl Lauterbach

CP: Ja, unser Gesundheitsminister Lauterbach ist natürlich auch schon …

VS: Ja, Herr Professor Lauterbach. Der hat auch diesem Gesetz zugestimmt. Also [da] werden sich jetzt wahrscheinlich viele auch denken: "Das kann ja nicht sein. Der ist ja nun wirklich jemand, der darauf hätte hören müssen, auf seine Fachkollegen aus der Pädiatrie." Wir haben damals keine Äußerung von ihm vernommen. Er hat dem aber zugestimmt.

VMMC

Er hat sich dann einige Jahre später mal geäußert in der taz, als es um die Beschneidungsprogramme an afrikanischen Kindern ging zur vermeintlichenv HIV-Prophylaxe - ein Riesen-Themenfeld. Da weiß ich selbst bei unserer heutigen langen Sendung nicht, ob wir das im Detail besprechen können. Aber da ist er von der taz befragt worden, ob er es denn gerechtfertigt findet, dass man Kinder verletze - Kinder, nicht sexuell aktive Kinder - zur vermeintlichen Prophylaxe von sexuell übertragbaren Krankheiten. Und da hat er in der taz geantwortet, das sei eine ethische Frage, zu der er sich nicht äußern könne. Da denk ich heute auch immer dran, wenn er … er tritt ja jeden zweiten Tag oder doppelt in Talkshows auf und da wird die Ethik ja auch immer sehr und die Verantwortung immer sehr hochgehalten. Das war eine ethische Frage, zu der er sich nicht äußern würde. Warum eigentlich nicht? Das weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, ob er das je ausgerichtet bekommt, was wir heute hier über ihn sagen. Aber [das] kann man nicht begreifen, wie sowas zustandekommt. Und die taz hat damals sehr gut recherchiert. Sie hat ihn eben als Gesundheitsexperten der SPD zu dieser Frage angesprochen, da er diese Programme auch …

CP: Ich glaub', wir können kurz 'n bisschen drauf eingehen, was da passiert, weil - das hat ja nun mit Krankenhäusern und medizinischer Sorgfalt, wie das vielleicht sogar im 1631d verlangt wird, nun mal gar nichts mehr zu tun, was dann da passiert im Auftrag von Menschenrechtsorganisationen.

VS: Naja, die haben dann schon irgendwelche Wägen, wo sie dann vielleicht 'ne sterile Unterlage haben. Das kann schon sein. Zelte auch zum Teil, wo das passiert. Ja, das sind Riesen-Programme, mit vielen, vielen Millionen finanziert, auch zum Teil aus dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Das wäre zum Beispiel eine interessante Frage jetzt an den neuen Bundestag und auch an die Arbeitsebene im BIZ [Anmerkung IntactiWiki: VS meint vermutlich das "BMZ", das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung], ob die weiterhin da finanziert wird. Damals war das noch so, und dementsprechend war auch die Anfrage der taz eben gewesen.

Die Programme selber sind zum Teil gerade gestoppt, weil die US-amerikanische Regierung, die die vornehmlich finanziert hat, damit jetzt erstmal aufgehört hat, weil so viele tragische - "tragische" - und unglaubliche Zustände bekannt geworden sind, dass selbst sie das nicht mehr tragen konnten. Also da verweise ich gerne auf unseren MOGiS-Kanal und die Pressekonferenz, die wir 2017 mit afrikanischen Aktivist:innen in Berlin gehalten haben, wo die Zustände da vor Ort, zu was diese Programme letztendlich führen, welche Prozesse sie entfesselt haben durch die riesigen Gelder, die man da gekoppelt an Beschneidungsquoten in afrikanische Länder gespült hat, da eben aufgezeigt werden.

Und ja, da hat Herr Professor Lauterbach sich damals nicht dazu äußern können. Er kann's aber ab morgen machen, also für die Fehler der Vergangenheit, ja, trägt man Verantwortung, ja. Aber die Fehler von morgen kann man noch vermeiden.

CP: Schön.

VS: Es geht um Kinder. Wir müssen uns das immer wieder bewusst machen. Es geht nicht um Erwachsene, die sich selber wehren können. Das ist der ganz große Unterschied zu vielen, vielen anderen Debatten. Hier muss man sich für andere schon mal aus dem Fenster lehnen, weil die das selber nicht können. Das ist leider nicht passiert.

CP: Wir haben schöne Zitate …

VS: Oh, was hast du da rausgesucht? Irgendwas von 2012?

Feridun Zaimoglu

CP: Äh, ja. Also, es ist wirklich hart, weil man … man sagt so oft Sachen dahin und ist 'n bisschen flapsig und sowas, macht sich aber ganz selten Gedanken, ob es Menschen gibt, die das vielleicht gar nicht witzig finden oder die das einfach zu flapsig finden. Und wenn man jetzt mal einfach auf so Sprachregelungen schaut, die da offensichtlich keine Rolle gespielt haben … also, [das] sind so Sachen wie "Schnippschnapp, Läppchen weg, Knabe im Eimer." …

VS: Kannst du das nochmal langsam sagen?

CP:

Schnippschnapp, Läppchen weg, Knabe im Eimer.
Feridun Zaimogul[2]

Das ist'n Zitat von […] Feridun Zaimoglu, ein Autor, der gerade am Theater, und ich liebe die Adaptionen von ihm, die er mit Shakespeare gemacht hat und sowas, weil er 'ne sehr drastische Art und Weise hat, Sprache einzusetzen. Nur ist das das Eine, wenn das auf der Theaterbühne passiert, oder das andere, wenn ich das in 'nem wichtigen Artikel in der ZEIT dann äußere …

VS: … in 'nem politischen Zusammenhang, wo's darum geht, dass Kinder entrechtet werden. Das ist das Entscheidende.

CP: Genau, und das wollt' ich sagen, das …

VS: Das ist hammerhart.

CP: … und würde es auch da, würde es um weibliche Genitalbeschneidung gehen oder um Genitalverstümmelung gehen, hätte man ihm den Satz um die Ohren gehauen, wahrscheinlich.

VS: Das hoffe ich sehr, dass man da gesagt hätte: "Wie redet man über sowas? Wo ist denn bitte eine würdevolle Sprache?" Ja, das stimmt.

CP: Es gibt halt …

VS: Ja, das gehört zu den Dingen, die eben diese Debatte mit sich gebracht hat an schlimmen Folgen, was …

CP: … immer dieses "Stückchen" Haut, und dann heißt es, ein "Fetzen" Haut …

VS: "Fetzen" Haut, ja …

CP: … das sind ganz viele … also hier …

VS: [Sowas] steht in Zeitungen.

CP: Das steht in Zeitungen, ja.

VS: Ja, das stimmt.

Küchentisch-Beschneidung

CP: Und es kumuliert dann darin, dass dann einfach auch noch unter pseudo-wissenschaftliche Äußerungen hier geschrieben wird: "Die Funktion des Penis ist in keinster Weise beeinträchtigt." - Von der leitenden Staatsanwaltschaft Nürnberg 2019 jetzt …

VS: Ach so, ja. Das war 2019. Das war sehr interessant. Den Fall könnten wir auch nochmal auf… weil er auch zu den Folgen dieses Gesetzes gehört, ne? Ja, das können wir ja jetzt erzählen.

CP: Ja klar.

VS: Das war 'ne Küchentisch-Beschneidung in Nürnberg durch einen Arzt zuhause, und das Kind ist schwer verletzt in die Klinik eingeliefert worden …

CP: Also langsam. "Küchentisch-Beschneidung"? Heißt das, das passiert …

VS: … zuhause … bei dem Baby …

CP: … bei dem Baby zuhause. Aber von einem Arzt, oder …?

VS: Ja, von dem Arzt. Also es war eigentlich noch 'ne "Luxusvariante" der jetzigen Gesetzgebung. Es könnte ja auch ein Nicht-Arzt machen, den man irgendwie [ver]gleichbar für befähigt erklärt hat.

CP: Okay, das ist schiefgegangen. Weiß man warum?

VS: Nö. "Mit starken Blutungen …" stand dann in der Zeitung, also das kam sogar auch richtig in den Medien. Und dann wurde … tja, ist die Staatsanwaltschaft tätig geworden. Und das Verfahren ruhte dann sehr lange. Ich war sehr gespannt, ob das irgendwann mal weitergeht. Und dann anderthalb Jahre später ging dann durch die Medien, dass das Verfahren eingestellt worden sei, weil sich die Folgen doch nicht als so schlimm herausgestellt haben. Und dann hat die Staatsanwaltschaft in Nürnberg gesagt, die Funktion des Penis sei in keinster Weise beeinträchtigt.

Und da hab ich auch wieder wirklich … haben wir wieder so vor Augen geführt bekommen, was dieses furchtbare Gesetz - und diesen Jahrestag begehen wir heute - angerichtet hat. Dass man so über Genitalien sprechen darf, über anderer Leute Genitalien, wo ein Teil fehlt, ein hocherogener. Dass ich einfach für andere festlegen darf, die Funktion ist nicht beeinträchtigt, obwohl ein Teil des Organs fehlt, was eine Funktion hat, und damit auch eine Funktion natürlich verlorengegangen ist. Das sagt dann so eine Dame einfach. Dass da kein…

CP: Wenn mir in 'ner Operation durch 'nen Kunstfehler irgendwie 'ne halbe Niere weggenommen wird, dann würde danach auch keiner sagen: "Aber was willst'n, deine Niere funktioniert doch noch?" Natürlich wäre ich einfach … hätt' ich halt Anspruch auf Schadensersatz, auf Schmerzensgeld, auf was … Also, da würden Leute halt haften dafür, wenn da einfach 'n Fehler passiert ist, der nicht hätte passieren dürfen.

VS: Du meinst, wenn ein Teil der Niere dann weg wäre, oder? Funktioniert die dann noch? Da kenn ich mich nicht so aus …

CP: Da ist 'n Teil der Niere weg, ja, als Beispiel jetzt, aber dann würde man auch nicht sagen, das funktioniert doch noch. Sondern … der Teil ist weg. […]

VS: Der Teil ist weg. Und im Endeffekt war das eben dann auch folgerichtig nach der jetzigen Gesetzgebung, dass das Verfahren eingestellt worden ist, denn das, was da passiert, war … war ja erlaubt. Das hat man ja erlaubt! Man hat ja die Hausbeschneidung erlaubt, ja? Und das Risiko allein dem Kind aufgebürdet. [VS meint: "aufgebürdet"] Das Kind hätte auch sterben können - es hätte sterben können. Und dann sagt man: "Ja, es war aber doch alles passiert, so wie wir das von Gesetzes wegen erlaubt haben. Pech drum!"

Und das ist das Schlimme. Und das ist seit diesem Tag erlaubt.

CP: Also jetzt … sagen wir mal so: Da hat ein Kind tatsächlich noch Glück im Unglück gehabt …

VS: Ja.

CP: Aber es sterben ja Kinder.

VS: Ja.

Beschneidungstod in Australien

CP: Und jetzt gerade aktuell glaub ich hast du erzählt, ist in Australien was passiert.

VS: Donnerstag ist ein Junge gestorben.

CP: Ja.

VS: Das geht gerade groß durch die Medien in Australien. Ich hab heute auch mit einer befreundeten Organisation, mit dem Darbon Institute, noch telefoniert, heut' nachmittag, über den Fall. Dort sind zwei Brüder nachts in die Klinik eingeliefert worden und der Zweijährige ist verstorben. Wahrscheinlich an einem Anästhesie-Fehler. Die Vorhautamputationen wurden in einer Klinik durchgeführt. Und der kleine Bruder wurde mit einer Notoperation gerettet. Und gut, dass du das ansprichst. Denn das passt gut auf diesen Nürnberger Fall, weil die Polizei in Australien gesagt hat, der Fall des toten Jungen sei unverdächtig, weil die Vorhautamputation ja in einer Klinik durchgeführt wurde. Damit ist der Fall vom Tisch. Mehr kann man für den Jungen nicht tun. Das zeigt es nochmal richtig deutlich, wie das Risiko eben allein dem Kind obliegt und niemandem anders. Das Kind zahlt ganz allein den Preis, nicht wahr? Und jetzt wurde zwar alles getan, was die Polizei meint, [das] man für das Kind tun könnte, aber es ist leider tot. Das ist so, ja.

Und … ja … Wir hatten vor vier Wochen auch einen Fall von weiblicher Genitalverstümmelung. Darüber bin ich jetzt auch unterrichtet worden durch unsere australischen Freunde. Und zwar geplanter weiblicher Genitalverstümmelung. Und da kam es jetzt zu einer Bewährungsstrafe. Und das ist auch sehr interessant. Wirklich … den Bericht hab ich mitgebracht, weil ich den sehr spannend finde, auch was den Schutz von Mädchen und Frauen angeht. [Blättert.] Oder hab ich den hier? Ich weiß eigentlich auch ziemlich aus dem Kopf, und zwar ging der Bericht so ab … (Oder hast du den bei dir? … Nee, den hast du nicht, ne?) … das in dem Artikel halt stand: Ja, es kam zu einem Urteil und eine Mutter ist tatsächlich zu einem Arzt gegangen, zu einer befreundeten Ärztin aus ihrer Community, und hat die gebeten, diese Genitalverstümmelung vorzunehmen. (Hier hab ich die Sachen alle.) Und diese Ärztin hat dann natürlich aber gewusst, dass das verboten ist und hat im Endeffekt die Polizei angerufen. Und so ist dieser Akt, der Gott sei Dank … also dieser Plan aufgeflogen.

Und als ich den Bericht gelesen hab, [hab] ich mich die ganze Zeit gefragt: Ja, wann erfahre ich denn jetzt endlich, was konkret mit dem Mädchen passieren sollte? Denn wir wir eben ja durchgenommen haben, …

CP: … gibt es diese vier …

VS: Es gibt diese vier Arten. Weibliche Genitalverstümmelung erstmal lehn' ich natürlich grundsätzlich als Menschenrechtsverletzung ab. Aber ich weiß, dass es eine große Variation gibt, und ich weiß, dass die Unterschiede groß sind. Das weiß ich auch bei mir selber. Also mir ist auch klar, dass das, was mir passiert ist, anders [ist], als es anderen Jungs passiert. Dazu haben wir auch Beispiele da, zum Beispiel in Afrika. Da gab's einen großen Bericht, den hol' ich gleich auch noch hervor. Der ist sehr wichtig, den hab ich hier - kann ich auch mal in die Kamera halten - der ist aus dem Jahr 2018: "Die Prüfung ihres Lebens". [VS hält Zeitungsartikel in die Kamera.]

Da les ich gleich auch noch vor, was die da erdulden und erleiden müssen. Ich seh' schon ein, dass das ein Unterschied ist zu mir, auch wenn ich beides ablehne. Das nur mal noch als Hintergrund.

Ich wollte das gerne erfahren, jedenfalls auch in diesem Bericht aus den australischen Medien, hier vom 22. November 2021. Das Interessante ist, das erfährt man immer nicht. Hier steht zwar "furchtbar - barbaric", und "entsetzlich". Also da wird mit solchen Adjektiven gearbeitet. Dann kommt, nachdem so die Vorgänge, ja, die ich eben erklärt hab', mit der Ärztin und so, geschildert werden, kommt irgendwann auf einmal eine Beschreibung von weiblicher Genitalverstümmelung, wo dann steht: "Zu den extremeren Formen der weiblichen Beschneidung gehören die vollständige Entfernung der Klitoris …" - Da muss man auch mal wissen, dass die Klitoris zu 90 % ein innenliegendes Organ ist. Die wird nie vollständig entfernt. Da müsste der ganze Unterleib aufgeschnitten werden. Schlimm genug, wenn man nur zehn Prozent und die Spitze entfernt. Aber es ist einfach anatomisch auch schon wieder falsch. - "… und der Schamlippen sowie die teilweise Vernähung der Vagina. Sie ist in vielen Ländern verboten, aber zum Beispiel in Uganda wird sie noch praktiziert."

Uganda? Wir reden gerade von Australien. Und ich hab vorher gehört, dass die Mutter aus Singapur kommt, was auch nicht Afrika ist. Und ich weiß, dass in Singapur viel von medikalisierten Formen weiblicher Genitalverstümmelung vorkommen, die weniger invasiv sind als diese maximale, die wir vorhin oder auch beschrieben haben oder auch hier steht …

CP: Medikalisiert heißt über Hormone oder …?

VS: Nee, das wird von Ärzten gemacht, ganz steril, also nicht mit rostiger Rasierklinge im Wüstensand und so, sondern im Prinzip so wie auch in westlichen Ländern viel männliche Genitalverstümmelung vollzogen wird. Das wusste ich, das hatte ich ja gelesen. Da war mir klar, das wird höchstwahrscheinlich halt auch so, mit großer Wahrscheinlich auch so eine Form sein. Weil sie eben in dem Land stark verbreitet ist, wo die Mutter herkommt. [Das] erfahr' ich aber nicht. Ich erfahr' jetzt nur irgendwas über Afrika. Dann les ich weiter und les ich weiter und ganz am Schluss kommt dann als Begründung dafür, dass die Bestrafung eben nur eine Bewährung beinhaltet, dass es eben nur eine Form wäre, also nicht so schlimm ist, wie das in Teilen Afrikas passiert. Das wird dann auf einmal gesagt.

Und das find ich wirklich sehr spannend, dass ich das erst ganz am Schluss erfahre, wo ich davor auf Praktiken hingewiesen werde, die da gar nicht eingetreten sind. Also "eingetreten" ist ja Gott sei Dank sowieso nichts. Aber die auch überhaupt nicht geplant worden sind. Und was ich auch sehr interessant finde, ist, dass das Gericht auch klar gesagt hat, dass es für sie keinen Religionsbezug in irgendeiner Weise gelten lässt. Denn die Mutter hatte also gesagt, das sei für sie in ihrer Kultur ein Geschenk an Gott, das mit der Tochter zu machen. Und da hat das Gericht gesagt: Ja, für sie sei das aber kein Geschenk an Gott. Die lassen das einfach nicht gelten. Nicht, das muss man sich auch mal vorstellen: Also hier beheimatete Kulturen würden bei männlicher Genitalverstümmelung vor Gericht stehen und da was von Altem Testament oder göttlichen Geboten erzählen, und ein Gericht würde sagen: Für uns ist es aber nicht so. Also, was da los wär' von Religionsverbänden, wie die sich wehren würden dann dagegen … Wenn Mädchen Opfer sind, kann man das leichter tun. Find' ich auch interessant.

Also das ist hier mit Australien.

Ratespiel

Ich möchte da auch ein kleines Ratespiel machen mit unseren Zuschauern in dem Zusammenhang.

Manche kennen das vielleicht schon, die schon Vorträge von mir gesehen haben. Ich sag' jetzt einen Satz und alle, die zusehen, können sich einfach für sich mal überlegen, ob sie diesem Satz zustimmen würden. Und dieser Satz lautet:

"Das Abschneiden der Vorhaut stellt eine Verstümmelung dar."

Würden Sie diesem Satz zustimmen? - Wir haben ja heute schon auch über diesen Begriff geredet. Vielleicht schon zu viel geredet, dass jetzt zu viel nachgedacht wird. Aber einfach mal für sich überlegen: Stimme ich dem zu - oder nicht? Brauchen Sie ja nicht zu sagen, einfach nur für sich.

Und jetzt sag ich Ihnen mal, wo dieser Satz herkommt. Der kommt aus einem … und dir sag ich's natürlich auch … aus einer Stellungnahme des Australian Highest Court, also dem höchsten Gerichtshof Australiens. Und da ging es vor einigen Jahren um einen Fall von weiblicher Genitalverstümmelung. Das waren religiöse Leute, die das getan hatten, an zwei Mädchen. Und die hatten Einspruch erhoben gegen das Urteil. Die waren also zu 15 Monate[n] Gefängnis verurteilt worden. Die medizinischen Gutachten hatten ergeben, dass die Klitorisspitze unberührt sei bei den Mädchen. Und insofern hatte die Verteidigung argumentiert, eine Verstümmelung läge nicht vor. Und jetzt kommt der Satz. Der Court hat aber gesagt, die Klitorisvorhaut, die Entfernung der Klitorisvorhaut würde den Begriff der Verstümmelung rechtfertigen, da die Klitorisvorhaut zur Klitoris gehöre.

CP: Ja.

VS: Und jetzt kann jeder mal für sich überlegen, ob man anders diesen Satz bewertet hätte, wenn man vorher gewusst hätte, dass es nicht um die Penisvorhaut, sondern um die Klitorisvorhaut ging. Und das find' ich sehr spannend, weil, wenn man jetzt im Nachhinein denkt: Oh, dann hätt ich's anders entschieden, dann ist das vielleicht ein Zeichen dafür, wie wir selber kulturell stark geprägt sind, auch gerade, was Geschlechterstereotype angeht, und das uns in unserer Urteilsfindung beeinflusst. Jetzt kann man sich überlegen: Wenn das Gericht hier sagt, die Klitorisvorhaut gehört zur Klitoris, wozu gehört denn dann die Penisvorhaut? Und warum soll das dann anders sein? Und wenn es nicht anders ist, … -

Ja, ich weiß nicht, ich glaube, man sieht hier auch immer mehr, wie stark diese Dinge zusammengehören. Das Gericht kann ja nur unter ganz großer Widersprüchlichkeit den Schutz von Mädchen auch vor dieser Form von weiblicher Genitalverstümmelung aufrecht erhalten. Und das ist schlimm. Weil ich will, wir wollen, dass Mädchen widerspruchsfrei geschützt sind vor Gerichten, und nicht im Endeffekt mit Not und sonstwie irgendwie noch gerade verteidigt werden, aber man eigentlich weiß: Das beißt sich alles hinten und vorne aufgrund der sonstigen Rechtsprechung. Das fällt uns alles auf die Füße.

Brigitte Zypries

Ich weiß noch, wie Brigitte Zypries, die war ja mal Justizministerin, auch 2012 einen hanebüchenen Artikel geschrieben hat in einer juristischen Fachzeitung, wo sie auf den Vorwurf einging, die Schutzlosigkeit von Jungs - [das] hat sie natürlich anders ausgedrückt - würde auch den Schutz von Mädchen gefährden. Da hat sie gesagt, das sei ja völlig abstrus und weltfremd, weil es solche formen ja gar nicht gäbe. Komischerweise sind gerade diese Fälle vor Gericht. Und zwar nicht nur in Australien, sondern in den USA war das auch letztens der Fall. Und sind im Endeffekt in ihrem Ergebnis für den Schutz von Mädchen und Frauen gefährdet durch den Gleichheitsgrundsatz der Geschlechter, der ja ein anderes, ganz wichtiges Ziel der Frauenrechtsbewegung ist.

Ich hab mich sehr gewundert, als es in den USA vor einigen Jahren dann zu diesen Schwierigkeiten bei den ersten FGM-Prozessen - das waren ähnliche Fälle wie in Australien - kam und das eben zu scheitern drohte. Im Endeffekt kam's da ja auch nicht zu wirklichen Verurteilungen. Nicht nur aufgrund des Gleichheitsgrundsatzes, sondern auch wegen föderalistischen Fragen in den USA, der Zuständigkeiten. Weil ich dachte, da muss doch jetzt eigentlich ein Aufschrei durch die Menschenrechtsbewegungen dieser Welt gehen. Weil, dass FGM, weibliche Genitalverstümmelung, bestraft wird, ist ein ganz langes Ziel, seit Jahrzehnten. Und die Gleichberechtigung der Geschlechter auch. Und jetzt kommt es zum ersten Prozess in den USA und das eine Ziel wird gefährdet durch das andere Ziel. Und aus einem einzigen Grund: weil man Jungen weiter schutzlos stellt.

Und komischerweise schien das aber niemandem so richtig aufzufallen. Ich hab damals einen Artikel für unsere Homepage geschrieben, weil ich dachte: Das ist doch komisch, das ist doch furchtbar. Da muss man ja doch mal irgendwie umdenken und sagen, unsere Ziele sind offensichtlich gefährdet. Also selbst, wenn's einem nur um Mädchen und Frauen ginge …

CP: Ja.

VS: Das find' ich … Bis heute … kann ich das eigentlich nicht verstehen. Nicht, dass selbst das nur so langsam dazu führt - es kommt langsam in Schwung - aber dass man sieht, im Endeffekt setzen wir uns alle für die gleiche Sache ein. Es geht darum, dass Kinder mit den Genitalien, mit denen sie auf die Welt kommen, akzeptiert werden.

CP: Ihr arbeitet ja auch viel mit Frauenrechtsorganisationen zusammen und habt da Erfahrung mit.

VS: Ja, immer schon, jaja … Die haben ja auch damals das Kölner Urteil ganz stark unterstützt. Die haben das gesehen. Und das passiert Stück für Stück. Aber im Endeffekt kann man das nur zusammen gewinnen, das merkt man ganz klar.

Ästhetische Motive

CP: Was ich jetzt nochmal auch für die Zuschauer auch nochmal rausformen möchte, also jetzt … es geht mir … [es] kam jetzt ein bisschen zu kurz, weil wir haben jetzt von einem Arzt in Australien gesprochen und einem Kind in Nürnberg, das gerade nicht gestorben ist. Aber es gibt schon auch in der westlichen Hemisphäre, auch in den USA oder sowas, wo ja sehr viel beschnitten wird, auch aus ästhetischen Motiven, gibt es ja immer wieder Opfer. Es sind jetzt leider trotzdem wenig …

VS: Entschuldigung: "Ästhetische Motive". Können wir das nochmal kurz eben, da gleich reingrätschen?

CP: Ja.

VS: Mach mir mal die Tafel 14 an. Dann erfahren wir, warum man in den USA das macht.

[Folie 14: Zitat John Harvey Kellog, 1888]

Das ist die ärztliche Stellungnahme, die im 19. Jahrhundert ganz wesentlich dazu geführt hat, das Vorhautamputationen am Säugling sehr populär wurden.

Ein Mittel gegen Masturbation, welches bei kleinen Jungen fast immer erfolgreich ist, ist die Beschneidung. Die Operation sollte von einem Arzt ohne Betäubung durchgeführt werden, weil der kurze Schmerz einen heilsamen Effekt hat, besonders, wenn er mit Gedanken an Strafe in Verbindung gebracht wird.

Bei Mädchen, so hat der Autor herausgefunden, ist die Behandlung der Klitoris mit unverdünnter Karbolsäure hervorragend geeignet, die unnatürliche Erregung zu mindern.

So, also: Dieser Brauch, oder diese medizinische Praxis, die bis heute massenhaft in den USA stattfindet, Gott sei Dank auch abnehmend, stark abnehmend in den letzten Jahrzehnten, aber die wirklich teilweise über 90 % war, Mitte des letzten Jahrhunderts, oder auch noch in den [19]70ern - die kommt daher, aus einem ganz sexualfeindlichen, klerikalen Zeitalter. Da kommt die her. Und die war auch nicht nur auf Jungen bezogen, sondern auch auf Mädchen. Bei Mädchen hat sich's zum Glück nicht in dem Maße durchgesetzt. Das wissen auch viele nicht, weil natürlich heute in den USA nicht mehr dementsprechend argumentiert wird. Das käme jetzt vielleicht nicht so gut. Man hat dann eben neue Gründe erfunden. Also die Menschheit hat immer wieder neue Gründe erfunden, sich irgendwie an Kindergenitalien zu vergreifen.

Das ist ja klar - der Rechtfertigungsdruck ist riesig, das zu tun, auch um das eigene Trauma zu verdrängen, die eigene Ohnmacht, ist es ganz menschlich, dass man sich da immer wieder Rechtfertigungen heranzieht. Der Weg aus diesen Kreisläufen ist sehr schwierig und mit zahlreichen Hemmnissen bestückt.

Entschuldige, dass ich da reingegrätscht hab'. Das waren nur die USA.

CP: Nein, ich greif's aber dann trotzdem auf, weil Du sagst: die Rechtfertigungsgründe. Und also auch da - nicht nur, aber bleiben wir halt in den USA: Auch Geld spielt da 'ne Rolle. Also das ist ja immer der größte Motivator, gerade bei so Sachen … Das haben wir an der Tafel gesehen eben von dem Cornflakes-Menschen von 1888.

VS: Es war der Bruder, glaub ich. Es war nicht der direkte, nicht?

CP: Okay, also man kann noch Cornflakes essen? [Lacht]

VS: Ja Gott, äh … [lächelt]

CP: Nein, aber wo irgendwann jetzt man, wenn man recherchiert, man herausfindet, warum eigentlich tatsächlich was entstanden ist, was überhaupt nichts mit den heute vorgeschobenen Gründen zu tun hat. 'Ne ähnliche Geschichte ist ja die Kriminalisierung von Hanf, die ja tatsächlich zurückgeht auf die Tatsache, dass die Papierindustrie sich halt Sorgen machte, dass da ein günstiges Alternativprodukt kam …

VS: Ach so!

CP: … und man deswegen tatsächlich angefangen hat, mit damals auch schon Lobbyismus weltweit und halt einfach den Einfluss überall geltend zu machen, dass möglichst alle Länder dieses Hanf kriminalisieren.

VS: Okay …

CP: Und das ist 'n ganz banaler Grund gewesen. Da war dann zwar halt 'n großer Industriezweig, der halt Sorge hatte, dass es ihm schlecht geht. Und die hatten halt den Einfluss auf die Politik, und dann kommt der Stein mal ins Rollen. Warum er dann rollt, [darüber] macht man sich ja später keine Gedanken mehr, sondern man macht ja da weiter. Und irgendwann ist halt das Dogma: Das ist jetzt gefährlich, das muss bekämpft werden. Warum das ursprünglich so war, das interessiert dann keinen mehr.

Und das ist jetzt so'n bisschen da auch, dass man sich denkt: Schau mal, das ist doch alles, damit's hygienischer ist, oder damit man 'ne AIDS/HIV-Prophylaxe hat, oder was auch immer. Aber es kommt ganz banal daher, dass einfach Macht ausgeübt wurde von alten Menschen auf junge Menschen und: Ich durfte meine Sexualität nicht ausleben, du darfst das auch nicht.

VS: Das sind sicher unbewusste Faktoren, die einen ganz starken Motor darstellen. Aber du wolltest glaub ich eigentlich zu Unglücken und weil …

CP: Genau, deswegen. Aber in der großen Menge an Beschneidungen, die in den USA stattfinden, und das sind halt millionenfach[e], da fallen dann die 100 Kinder, die da jährlich daran sterben, nicht auf. Aber es sind 100 Kinder, die sterben, die …

Beschneidungstod in Afrika

VS: Ja, diese Studien sind nicht so ganz klar, also da bin ich immer etwas zurückhaltend. Ich halt' mich immer an die, die dann wirklich dokumentiert sind und an diese Schätzungen - da bin ich ein bisschen vorsichtig mit. Aber natürlich passiert das. Also es passiert immer wieder. Es sind auch in Europa vorletzten Winter Kinder gestorben. In Italien ist mindestens ein Junge gestorben. Das hat damals der Bayerische Rundfunk dann auch in diesen Bericht übernommen. Und in Afrika sterben viele Jungs. Da gibt's auch große Berichte. Also wenn das so passiert wie hier - ich kann mal kurz nur zwei Sätze vorlesen, was da passiert bei traditionellen Vorhautamputationen in solchen Riten in Ulwaluko im südlichen Afrika. [Anmerkung IntactiWiki: Ulwaluko ist kein Ort, sondern der Name für den raditionellen Beschneidungs- und Initiierungsritus zum Mannsein.]

Ja.

Als der Schnitt gesetzt ist, spürt Tokali gar nichts, sein Körper ist voller Adrenalin. Der Beschneider legt ein Blatt um Tokalis Penis, bindet eine Bandage straff darum. Dann kriecht Tokali benommen in eine der Reisighütten.

[…]

Am ersten Tag [Aber erst Tage später] hat Tokali das Gefühl aufzuwachen. Er schaut auf seinen Penis und erschrickt. Er blickt auf verwesendes Fleisch. "Warum ist das schwarz?", fragt er den Aufseher. "Das heißt, dass es schnell heilt."

[…]

Nach drei Tagen löst sich das tote Gewebe von seinem Penis. Tokali fragt den Doktor:

"Werde ich je Kinder haben können?"

"Das kann ich nicht beantworten."

[…]

"Um ein Mann zu sein", habe der Doktor gesagt, "brauchst du keinen Penis, du brauchst keinen Sex. Ein Mann zu sein, das bedeutet viel mehr."
Fritz Habekuß und Sebastian Kempkens (ZEIT)[3]

Also da sterben viele Kinder und Jugendliche. Es ist immer eine Frage, wie das ausgeführt wird. Es gibt eben auch bei männlicher Genitalverstümmelung eine ziemliche Bandbreite, wie das passiert. Das hat nur nie die WHO auch wirklich mal so zusammengefasst und beschrieben. Es gibt keine Programme der WHO, auch diese extremen Formen in irgendeiner Art und Weise einzudämmen. Das sind, wenn [überhaupt], nur lokale Initiativen oder Initiativen einzelner Länder. Das Grundrecht aller Kinder auf die Genitalien, mit denen sie zur Welt kommen, wird nirgendwo thematisiert.

CP: Was sich auch verändert hat in den letzten Jahrzehnten, sind die Erkenntnisse, was das Schmerzempfinden ja betrifft. Und deswegen, also jetzt im Gesetz steht ja, dass es möglichst wenig Schmerzen ver…

VS: ja, nötigen, nicht möglichst, sondern die nötigen oder unnötigen Schmerzen, ja …

CP: ja, die nötigen oder unnötigen Schmerzen …

VS: Das stand nicht im Gesetz. Das stand in dem Aufruf, ein Gesetz zu entwickeln.

CP: Ach ja, damals, genau. Aber es ist jetzt wirklich … was macht das denn noch mit den Kindern? Ich meine, es ist ja, man geht davon aus, dass da Traumata verursacht werden, die halt einfach bleiben. Dass tatsächlich auch 'n anderes Schmerzempfinden dann im späteren Leben dadurch ausgelöst wird, … Und was Kinder halt nicht haben, also vor allem die Kleinen, [die] Säuglinge haben ja nicht das Bewusstsein: Das ist ein Schmerz, der hört wieder auf. Sondern das ist halt einfach in dem Moment einfach nur Schmerz. Und sie können's auch nicht relativieren, also wie soll das gehen?

VS: Ja, das ist total individuell, je nach genauem Alter. Wenn es in einem vorsprachlichen Alter passiert, ist das Trauma natürlich sehr schwer, später da Zugang zu finden, weil's eben vorsprachlich ist.

CP: Aha.

VS: Wenn die Kinder älter sind und sich noch erinnern können, haben sie natürlich mehr Möglichkeiten, auch der Relativierung für sich, und können es artikulieren, sich aktiv erinnern. Das ist höchst, höchst individuell, wie das verarbeitet wird. Also mit solchen Sachen kommt jeder Mensch unterschiedlich klar. Das ist auch gut so. Also, wir sind natürlich auch froh über jeden Menschen, egal welchen Geschlechts, der das irgendwie einigermaßen übersteht. Darum geht's ja nicht. Es geht um die, die darunter leiden, und um das Risiko, dass jedem, dem das passiert, jemand sein kann, der dadrunter leidet. Das ist die eine [Sache]; das andere ist das Grundrecht, auf den Körper, auf den eigenen Körper, auf die eigenen Genitalien, auf die Akzeptanz. Recht auf Akzeptanz, so wie man ist. Das ist ganz, ganz wichtig.

Ich glaube, viele … Es passiert oft ein Fehler … Man muss das auseinanderhalten: die grundsätzliche Haltung zu dem Thema und die Schwierigkeit der Umsetzung des Kinderschutzes. Das wird oft durcheinandergeschmissen. Man sieht vor allen Dingen, letzteres ist wahnsinnig schwierig, politisch. Also, das machen sehr … Also jetzt geh' ich mal nur von Deutschland aus. Die Welt besteht aber nicht nur aus Deutschland, aber jetzt sagen wir mal nur Deutschland.

[Da] kann man sagen, das mit Jungs ist sehr schwierig; aufgrund verschiedener politischer und historischer Begebenheiten ist das schwer hier umzusetzen. [Da] kann man der Meinung durchaus sein. Ich finde es sehr wichtig, wir finden's sehr wichtig als Verein, die gesellschaftlichen Realitäten anzuerkennen. Denn man kann nur eine Welt verändern, wenn man sie erstmal erkennt, so wie ist. Das war immer so, ansonsten macht man 'nen großen Fehler. Hat's auch oft in der Geschichte gegeben.

Viele machen dann aber den Fehler, dass sie daraufhin dann sagen: Dann entwickele ich gar keine Haltung dazu. Und das eine hat mit dem anderen erstmal gar nichts zu tun. Die Gleichberechtigung der Geschlechter, das Recht auf körperliche Unversehrtheit steht einfach da. Ich kann eigentlich keine Haltung dazu übernehmen, die die Kinder schutzlos stellt, um nicht in ganz großen Konflikt mit diesen Grundrechten zu kommen. Und wenn Leute sagen, aufgrund [dessen], weil das alles so schwierig ist, halt' ich mich da lieber raus, ich bevorzuge lieber, eine neutrale Position einzunehmen, dann lügen sie sich in die Tasche. Den Zahn muss ich leider allen ziehen, auch wenn das natürlich ein verlockendes Angebot ist, vielleicht, sich aus einem gesellschaftlichen Konflikt rauszuhalten, der schwierig ist.

Sicher sind wir alle nicht gefeit davor. Und ich hab das bestimmt in irgendwelchen Zusammenhängen auch schon mal gemacht, wo ich dachte, das ist mir irgendwie zu heikel, da beziehe ich keine Position. Das Problem ist nur, dass, wenn es um Kinder geht, die sich nicht selber schützen können, gibt's in der Wirkung keine neutrale Position. In dem Moment, wo ich nicht mich vor die Kinder stelle und für die Kinder ausspreche, die sich nicht selber verteidigen können, stärke ich automatisch die Starken, die Erwachsenen, die sich sehr wohl verteidigen und sich durchsetzen. Solange ich mich nicht auf die Seite der Kinder stelle und für die ausspreche, lass ich das einfach so weiter, wie's bisher ist, dass sich die Starken durchsetzen. Denn eine eigene Entscheidung des Kindes ist in diesen Fragen niemals inbegriffen, die wird niemals überhaupt in Betracht gezogen, sondern die Erwachsenen bestimmen, was passiert.

CP: Genau, wenn ich nicht ausgesprochen dafür bin, aus welchen Gründen auch immer, dann muss ich einfach dagegen sein. Man kann nicht sagen …

VS: Ich würd' immer sagen: "dafür", ich will das "dafür". Wir sind "für Selbstbestimmung", das find' ich immer ganz wichtig. Wir sind für etwas. In dem Moment, wo ich mich nicht für die Kinder einsetze, bin ich auf Seiten der Erwachsenen, das heißt, und da auch wieder, [das] Entscheidende ist nicht, was ich mir so in meinem Erwachsenenhirn zurechtklingel', sondern was die Wirkung für die Kinder ist. Die entscheidet. Und wenn die Wirkung so ist, dass es so weiterläuft, hab ich eine Position eingenommen. Und davon ist völlig unberührt, dass natürlich die Umsetzung schwierig ist.

Aber das haben wir ja in vielen anderen Dingen auch: Also die Umsetzung des Rechtes auf Leben ist auch schwierig, weil es immer mal wieder Morde gibt. Oder [das Recht] auf Eigentum: Ladendiebstahl gibt's auch immer wieder. Und die Umsetzung dessen ist sicher schwierig. Aber Ladendiebstahl ist Ladendiebstahl, egal, ob er zum Beispiel von jemand … ob jemand sich für seinen Luxus einen Gameboy stiehlt, oder eine arme Person was zu Essen - es ist Ladendiebstahl. Also für die grundsätzliche Einordnung des Tatbestandes ist völlig unerheblich, zu welchen Motiven das passiert. Wenn ein Gericht daran das abhängig machen würde, wäre es nämlich befangen. Wenn man sagen würde, aufgrund des Ansehens der Person werte ich die Tat anders, das ist ganz schlimm …

CP: Man muss das ohne Ansehen …

VS: Ja, richtig. Unser Staat muss weltanschaulich neutral sein. Das heißt, das darf man gar nicht. Was die Umsetzung angeht, ja, das ist schwierig.

CP: Es sagt ja auch keiner, dass das leicht wäre.

VS: Richtig, das behauptet keiner. Es gibt auch Leute, die sagen: Ja, die von MOGiS, oder Leute, die sich da für den Kinderschutz und die Gleichberechtigung einsetzen, "die machen sich das leicht", oder so. Das Thema würde keine leichte Antwort vertragen. [Da denk ich dann immer:] Leicht? Wer kommt denn darauf, dass das … Meinen Sie, [dass das,] was wir tun, leicht ist? Seit zehn Jahren versuchen, dafür in gesellschaftlichen Dialog zu treten, eine faktenbasierte Debatte anzutreiben, eine Plattform des Dialogs irgendwie in Gang zu bringen, Betroffenen die Möglichkeit zu schaffen, Räume zu ermöglichen, wo sie angstfrei darüber reden können, auch sich in die Idee derjenigen, die das tun mit ihren Kindern, hereinzuversetzen, um sie abzuholen im Dialog - wer meint denn, dass das einfach ist? Also das find' ich auch immer total abstrus, und deswegen versuchen wir immer, zu erklären, wie unsere Arbeit eigentlich aussieht. Insofern hoffe ich auch, dass diese Sendung letztendlich von vielen gesehen wird. Aber leicht ist wirklich was anderes. Also da find' ich es ehrlich gesagt leichter einfach für die Leute, die sagen, sie halten sich da raus. Weil die sich damit ja dann auch noch eigentlich wohlfühlen, also sich ja für besonders besonnen halten. Also, ja … Das ist ganz schwierig, aber das vielleicht so als Reaktion noch auf so Dinge, die manchmal geäußert werden.

CP: Ja.

§ 1631e BGB

VS: Wir können ja über noch ein Gesetz sprechen.

CP: Ja.

VS: Haben wir das drin? Doch, den 61 e [Anmerkung IntactiWiki: VS meint § 1631e BGB.] Ah, den hast Du da. Das ist nämlich auch wichtig, sehr wichtig.

[Folie § 1631e BGB]

Dieses Jahr am 7. Mai, das ist echt interessant, da wurde das nämlich letztlich verabschiedet. Da gibt's jetzt noch einen Feiertag, Feiergrund am 7. Mai, nicht nur das Kölner Urteil, sondern auch die Entscheidung des Bundesrats, [dadurch] sind Kinder mit Varianten der Geschlechtsentwicklung vor medizinisch nicht notwendigen OPs gesetzlich - tja, zumindest steht es da - geschützt. [Das] müssen wir auch mal lesen.

Die Personensorge umfasst nicht das Recht, …

Das andere, das für Jungs, hieß ja "umfasst das Recht", jetzt heißt es "umfasst nicht das Recht".

… in die Behandlung eines nicht einwilligungsfähigen Kindes mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung einzuwilligen oder selbst diese Behandlung durchzuführen, die, ohne dass ein weiterer Grund für die Behandlung dazutritt, allein in der Absicht erfolgt, das körperliche Erscheinungsbild des Kindes an das des männlichen oder des weiblichen Geschlechts anzugleichen.

Also da geht's um Kinder, die Varianten der Geschlechtsentwicklung aufweisen, also die äußerlich sichtbar nicht eindeutig typisch männlich oder weiblich sind. Und wenn man die operieren will, nur um sie dann zu vereindeutlichen, dann ist das seit dem 7. Mai - 2021 haben wir dieses Jahr - verboten. Und jetzt wird's auch noch interessant. Können wir das noch weiterlesen?

In operative Eingriffe an den inneren oder äußeren Geschlechtsmerkmalen des nicht einwilligungsfähigen Kindes mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung, die eine Angleichung des körperlichen Erscheinungsbilds des Kindes an das des männlichen oder des weiblichen Geschlechts zur Folge haben könnten und für die nicht bereits nach Absatz 1 die Einwilligungsbefugnis fehlt, können …

Jetzt kommt das Entscheidende:

… die Eltern nur einwilligen, wenn der Eingriff nicht bis zu einer selbstbestimmten Entscheidung des Kindes aufgeschoben werden kann.

Das ist doch toll, oder?

CP: Wahnsinnig differenziert.

VS: Ja, und auf einmal kommt nämlich die Selbstbestimmung. Die Selbstbestimmung gab's ja gar nicht bei dem Gesetz zu Jungs. Also: Jungen und Selbstbestimmung ist völlig fürn Arsch - Entschuldigung, das ist mir jetzt einmal rausgerutscht - das brauchen die nicht.

CP: Das ist bei YouTube, das läuft …

VS: Das läuft, okay. Jetzt - das find' ich ja erstmal super. In einem Gesetz, was Kinder schützen soll und ihre Genitalien, so wie sie zur Welt kommen, eine selbstbestimmte Entscheidung. Wenn das aufzuschieben ist, dann muss das auch aufgeschoben werden. Da ist die Priorität beim Kind, bei der Selbstbestimmung, und nicht bei den Eltern, möglichst schnell Rambazamba zu machen. Das ist doch wirklich ein Super-Fortschritt.

CP: Das könnte ja … das passt ja 1:1 eben genau auf die Beschreibung auch, also das kann man natürlich aufschieben. Das ist ja nicht so, dass man das nur mit zwei Monaten oder acht Jahren machen kann, sondern …

VS: Naja, du hast ja die Statistiken erkannt auch vorhin, die wir alle kennen weltweit, dass, wenn man das nicht an Kindern macht, dass es kein Massenphänomen mehr ist. Es heißt, mit großer Sicherheit wird das dann von der Welt verschwinden als Massenphänomen und wird ein Spleen oder - naja, das ist wie … da war ich jetzt übergriffig … eine Varietät von Erwachsenensein, was die so mit sich machen, wie Tätowierungen, was weiß ich, es gibt ganz viele Geschichten, was man so mit sich tun kann. Mehr wär's nicht.

Es gab ein interessantes Interview in der Maischberger-Sendung 2012 zu dem Thema. Ich glaub', der Arzt hieß Isik, der dann auch vor Frau Maischberger sagte, als die nämlich auch eine Verlegung des Alters ins Spiel brachte, da hat er gesagt: "Naja, kennen Sie denn noch Jugendliche, die gern zum Arzt gehen?" Das kann man noch nachlesen. Musst du mal googeln: "Maischberger 2012". Und Frau Maischberger hat dann auch sehr klug nachgefragt: "Sie meinen also, das würde dann später abgelehnt werden, wenn man wartet?" und [da hat] er gesagt: "Ja klar!"

[Anmerkung IntactiWiki: VS meint den türkischstämmigen Arzt Sebastian Isik in der Sendung "Menschen bei Maischberger: Beschneidung" vom 14.08.2012 in der ARD.]

CP: Das wäre der Wille des Kindes, der betroffenen Person.

VS: Das wäre der … genau, und also, deutlicher konnte man es gar nicht erfahren, dass man das frühe Alter letztendlich hat, weil man weiß: Später passiert das nicht mehr. Das ist aber keine Begründung. In einem Rechtsstaat sollte es keine sein. Ja, war es damals auch noch nicht, das war ja vor dem 12.12.2012, wo diese Sendung ausgestrahlt wurde.

Jetzt müssen wir bitte nochmal eine Folie weitergehen, weil bei diesem Gesetz auch in der Begründung etwas steht. Und zwar - es ist ja immer so: Wenn man nur einige Kinder schützt, muss man ja immer irgendwo begründen, warum man nur die einen und nicht die anderen schützt. Bei dem Gesetz für die intergeschlechtlichen Kinder wollte sich der Gesetzgeber gleich zweifach abgrenzen. Also erstmal, dass es keinen Strafrechtsbestand wie bei den Mädchen gibt. Da musste man also irgendwie sagen, warum das denn jetzt was anderes ist. Den hab ich jetzt nicht da drin, aber das erzähl' ich mal:

Da stand da nämlich drin, dass das ja schließlich bei intergeschlechtlichen Kindern niemals eine Verstümmelung sei, weil das ja Ärzte aus medizinischen Gründen heraus macht[en].

CP: Genau.

VS: Und das sei ja schließlich anders als bei FGM. Tja, ich weiß auch nicht so genau, was sie … wie die sich das immer vorstellen. Dann wird eben auch verallgemeinert, als ob FGM halt immer irgendwelche fürchterliche Beschneiderinnen im Busch machen. Und das machen auch Ärzte.

CP: Ja.

VS: Und zwar in zunehmender Anzahl, in vielen Ländern der Welt. Also es ist auch sehr, sehr kurzsichtig gewe[sen]. Ja, und das fand ich auch schlimm, weil das ja auch wieder diese einseitige Täter-Perspektive war. Wobei mir klar ist, jetzt Ärzte und auch die Eltern - Täter-Perspektive - ich mein' das ja im übertragenen Sinne, ne? Das ist auch wieder, was ich vorhin gesagt hab, eine Kinderrechtsverletzung. [Die] definiert sich danach, was mit dem Kind passiert, und nicht [danach], was die Erwachsenen denken.

Wenn die betroffene Person intergeschlechtlich operiert wird ohne ihr Einverständnis, es nicht medizinisch notwendig ist, und später darunter leidet und sich als verstümmelt sieht, dann ist es völlig egal, ob das ein Arzt gemacht hat oder irgendjemand im Busch oder in der Klinik oder in einem Beschneidungszentrum oder sonstwie. Da entscheidet die betroffene Person darüber und nicht der Gesetzgeber in Deutschland, nicht? Also das ist … fänd' ich ganz schlimm, also da hab' ich sehr mit den intergeschlechtlichen Menschen gefühlt und fühle mit denen auch, weil das übergriffig ist. Das kann man nicht bestimmen für andere Menschen. Sondern das sieht wieder nur die Erwachsenen-Perspektive. Die haben das ja anders gemeint. Die haben gedacht, das sei medizinisch notwendig. Das ist doch für die Grundsache völlig unerheblich, weil die Grundsache der Betroffene entscheidet und niemand anders.

Das war die eine Abgrenzung. Und die andere war natürlich, dass man jetzt unbedingt - jetzt kommen wir wieder zurück auf die Folie - ja sagen musste, warum das natürlich mit den Jungs was ganz anderes ist. Und jetzt wird's besonders toll. Da steht jetzt also tatsächlich: "Beschneidung bei Jungen ist in 1631d speziell geregelt." Das kann man so sagen.

CP: [lacht.]

Auf die Beschneidung der Vorhaut eines Kindes, das nicht männlich im Sinne des 1631d BGB ist (also auch eines Kindes mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung), ist 1631d BGB dagegen nicht anzuwenden.

CP: Also, wir haben ja gar nicht …

VS: Tja … Komm, wir wollen mal versuchen, das zu verstehen.

CP: Wir haben vorher … ich erinner' mich, wir haben gesagt, das wird ja gar nicht geregelt, was männlich ist.

VS: Genau. Da wird aber behauptet, da sei das irgendwie …

CP: Genau, also das ist … stimmt eigentlich nicht …

VS: Dafür gibt's keine Definition, gibt's nicht. Das ist erfunden. "im Sinne des … - männlich im Sinne des 1631d BGB" gibt's nicht. Wir können uns aber jetzt mal versuchen, Christoph, mal auszudenken, was sie damit denn meinen

CP: Okay.

VS: Was ist … was meinen die denn damit?

CP: [sprachlos]

VS: Was darf es denn nicht sein? Weil sonst nämlich …

CP: Es darf nicht weiblich sein.

VS: Und was darf es auch nicht sein? 'Ne Variante aus beiden. Und dann ist es ja nicht anzuwenden. Was bleibt denn dann noch übrig?

CP: Es gibt ja nichts.

VS: Doch. Was bleibt denn dann übrig? Also wenn's nicht weiblich, nicht Variante ist, wie muss das Kind dann sein, damit …

CP: Männlich!

VS: Bitte? - Damit es weiterhin beschnitten werden darf.

CP: Männlich.

VS: Genau. Also - aber wie männlich? Was muss denn da sein?

CP: Ja "richtig männlich".

VS: Was ist denn so richtig männlich?

CP: Da muss einfach 'n richtiger Penis sein.

VS: So'n richtiger Penis. Hab ich nämlich auch gedacht. Was ist das eigentlich? Ich hab das letzte Woche in einem Vortrag, da hab ich gesagt, so'n "ganz reinrassiger Penis". Ist doch wohl gemeint, oder? Wo du überhaupt nicht auf die Idee kommen könntest, dass da irgendwas an Variante dran ist. Also so'n "richtig reinrassiger Penis". Das ist das einzige, was übrig bleibt. Weil wenn es so'n Tick [anders ist], dann würde ja was anderes greifen. Ja, oder wie soll ich das anders verstehen? Ich versuch's einfach nachzuvollziehen, was sich da Leute im Justizministerium gedacht haben, als sie das aufgeschrieben haben. Das gehört auch zu den Folgen des {{12.12.2012|12. Dezember 2012]].

CP: Weil sie …

VS: Weil sie sich sowas aus…, weil sie einfach nur deswegen nicht aus dem Quark kommen, einfach mal zu sagen, wir schützen alle Kinder gleich. Und wir vergessen diesen ganzen Unfug.

CP: Wir streichen … also was müsste man da eigentlich machen? Man müsste die ganzen Paragraphen einfach streichen und entsprechend halt … ?

VS: Wegen mir schon. Das Recht auf gewaltfreie Erziehung reicht. Man kann ja auch von mir aus, wenn man das will - aber da streiten sich die Juristen - ich bin ja keiner - ob das jetzt Sinn machen würde, da nochmal einen eigenen Strafrechtsparagraphen für alle Kinder … Ich weiß es nicht.

Unsere Gesellschaft … Ich hab ja vorhin gesagt, wir müssen die Realitäten auch anerkennen. Wir können das sicher nicht von heute auf morgen allein über[s] Strafrecht lösen - im Sinne für die Kinder. Das seh ich auch so. Aber man muss ja zumindest ein Ziel definieren und sich vor allen Dingen zusammen als Gesellschaft auf den Weg machen. Wie gehen wir diesen Weg denn? Also was … wer hat da alles beizutragen? Wer hat Ideen dafür zu liefern?

Manchmal sagen mir die Leute auch: Ja, wie soll'n das gehen? Da sag ich immer: Warum soll ich das denn allein oder wir allein wissen? Das ist ja wirklich die Krönung: Also wir sind doch nicht hier, der MOGiS e.V. ist doch nicht zuständig für die Wahrung von Grundrechten in Deutschland, oder für die Wahrung von Kinderrechten. Das ist ja wohl eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das geht ja wohl alle an. Also Entschuldigung, wir machen ja schon was, was in den letzten zehn Jahren - also zumindest nach dem Gesetzesbeschluss - in Deutschland gelaufen ist, was Diskussionsebenen angeht, ist ja schon in wesentlichen Teilen durch uns in Ehrenamtsfunktion auf die Beine gestellt worden. Also irgendwann sind auch mal andere dran. Hallo?!

CP: Also es tut sich ja schon ein bisschen was.

VS: Ja, es tut sich schon ein bisschen was.

Überarbeitung der Leitlinie zur Zirkumzision

CP: Wir haben ja ganz am Anfang schon gesagt, der überwiegende Teil der Beschneidungen, die in Deutschland passieren, sind ja auf zweifelhafte medizinische Indikationen hin, die da … oder passieren auf solche Indikationen hin. Und da ändert sich ja gerade schon einiges, weil jetzt 'ne …

VS: Da ändert sich ne ganze Menge, ja.

CP: … 'ne Leitlinie neu rauskommt, und das, was die Kinder- und Jugendärzte dann 2012 schon geäußert haben, das ist …

VS: Ja, da tut sich was.

CP: … das verändert sich jetzt.

VS: Da tut sich was, ja.

CP: Also basically wird einfach jetzt die klassische Phimose, diese Vorhautverengung, weshalb ja viel beschnitten wird, halt einfach nicht mehr als automatischer Grund gesehen, ne Beschneidung vorzunehmen, um's mal vereinfacht zu sagen.

VS: Ja, bis sich das tatsächlich so in die Praxis dann durchsetzt, dauert's. Also da stand schon nach der letzten Überarbeitung der Leitlinie 2017 eigentlich schon echt fest in der Theorie - und die Zahlen sind bisher anscheinend nicht besonders runtergegangen - es wird jetzt in den nächsten Wochen eine weitere Überarbeitung der Leitlinie erscheinen, die nochmal deutlich differenzierter ist und besser wirklich auch der medizinischen Behandlung im Sinne des Kindes (!) dienlich sein wird. Die wird erscheinen, und mal gucken, wie das … ob's, ja, ob das besser wird. Dass das auch wirklich bis nach unten hin trägt.

Da, bei dieser Überarbeitung der Leitlinie waren wir ja auch beteiligt vom MOGiS e.V., und die wird wirklich besser sein in dem Sinne, dass sie eben Beschwerden lindert. Es geht ja darum, wenn durch Vorhautengen Beschwerden auftreten, dass dann Kinder natürlich Hilfe bekommen, aber dass man nicht entwicklungsbedingt normale Zustände künstlich für krank erklärt und dann zu Behandlungen rät, die im Endeffekt eben auch dazu führen, dass das Organ verlorengeht, also die Vorhaut.

CP: Also, es kommen ja auch neue Ärzte immer nach. Also geht das in die … ins Studium schon ein, oder ist das … ?

VS: Oh, schwierig. Also die jungen Ärzte, die ich kenne, die sagen, dass das keine Rolle spielt - immer noch.

CP: Okay.

VS: Ja, du sprichst aber was sehr Wichtiges an: Das muss natürlich passieren. Das ist ganz wichtig.

CP: Ja, weil nur wo, wenn … das … Dann erledigt sich das nämlich von selber, wenn alle, die nachkommen, nur noch das lernen, dann …

VS: Ja. Ja. Das stimmt.

CP: … aber wenn im Lehrplan immer noch steht, die Erde ist 'ne Scheibe, dann muss man halt alle immer dann später noch davon überzeugen, dass es keine Scheibe ist. Und wenn im Lehrplan halt drinsteht, die Erde ist rund, dann …

VS: Ja.

CP: … das hat … das funktioniert, in größten Teilen der Bevölkerung.

Ethikrat

VS: Das stimmt, das stimmt. - Ich könnt' mir noch 'n paar nette Zitate raussuchen. Was haben wir denn noch so? Über Australien haben wir ja schon gesprochen. Malaysia haben wir auch schon besprochen …

CP: Ich find's ganz interessant, es sind so'n paar … so, hier, vom Ethikrat, der kommt vor.

VS: Ah, lass uns doch mal über den Ethikrat reden. Oh, ja!

CP: Weil der Ethikrat hat ja jetzt auch in der Pandemie immer wieder 'ne Rolle gespielt, wenn's um Triage geht und so …

VS: Oh ja. Oh Gott, ja bitte!

CP: … und Impfzwang …

VS: Lass uns über den Ethikrat reden. Also der Ethikrat war natürlich auch eine ziemliche Hoffnung für uns 2012, weil der ja eigentlich unabhängig entscheiden soll. Und dann gab's da eine einzige Sitzung und dann haben die da so ein Statement rausgeklatscht, wo sie den Regierungsentwurf eigentlich mehr oder weniger abgesegnet hatten, außer noch ein bisschen auf ein Vetorecht und die Frage der Schmerzbehandlung eingegangen sind. Und das war's.

Ich hab damals ein Mitglied des Deutschen Ethikrats telefonisch gesprochen. Diese Person hat mir gesagt auf meine Frage hin, wie ich das jetzt einschätzen kann, dass die das mit einer einzigen Sitzung abhandeln. Da hat sie gesagt, diese Person: "Herr Schiering, recherchieren Sie doch mal im Netz, was wir zu Intersexualität gemacht haben, und vergleichen das damit. Dann hat sich diese Frage wahrscheinlich beantwortet."

Und dann hab ich recherchiert und dann hab ich gelesen, dass die damals auch eine Anfrage der Regierung bekommen hatten, dazu Stellung zu nehmen, und dass sie sich mit einer detaillierten Antwort zwei Jahre lang Zeit genommen haben. Die haben nämlich gesagt, ganz ähnlich wie bei männlicher Genitalverstümmelung: "Dazu haben wir zu wenig. Da haben sie aber nicht wie bei MGM gesagt, also bei Jungs gesagt: Ja, dann machen wir da mal eine Sitzung und sagen dann da was, sondern wir sagen erstmal nüscht, weil wir nicht genug haben."

Und was macht man, wenn man nicht genug hat als Ethikrat? Da gibt man was in Auftrag. Da wurden Gelder akquiriert, da hat man Umfragen gemacht, die ausgewertet, nochmal was … und so weiter. Man konnte das dann nachlesen. Und dann nach zwei Jahren haben die irgendwann eine Empfehlung an den Deutschen Bundestag gemacht. Auch da wieder, was alles so anders war und warum diese Debatte so unglaublich ist, dass wir immer wieder über sie sprechen müssen, auch jetzt neun Jahre später, nicht nur wegen den Folgen, sondern auch wegen dieser Zustände. Und das können die Leute ja alle gar nicht wissen draußen. Das ist doch klar. Ich weiß doch zu den meisten Themen auch nicht Bescheid. Das, was dann hängenbleibt, sind irgendwelche Headlines, die man zum Beispiel, was ich vorhin sagte: "Religiöse Beschneidung bleibt erlaubt" und sowas. Das bleibt dann hängen, wenn es immer wieder wiederholt wird. Und man hat doch gar keine Zeit dafür, zu überprüfen, ob das die Gesetzeslage überhaupt hergibt.

So ist das zum Beispiel auch mit dem Ethikrat. Und tu doch mal bitte dieses eine Zitat da noch von Frau Woopen, die ehemalige Ethikrat-Vorsitzende. Also da ist uns wirklich der Hut hochgeflogen, als dann im Jahr 2019 sie in einem Interview sagt:

[Folie Ethikrat, Zitat Prof. Christiane Woopen, 2019]

Als ich 2012 Vorsitzende des Deutschen Ethikrats wurde, ging es als erstes um die bei Juden und Muslimen übliche Beschneidung von Jungen.

Erster Fehler. Weil wir wissen ja, die allermeisten Betroffenen in Deutschland sind weder Juden noch Muslime. Dann ging's weiter:

Natürlich kann man eine solche Frage theoretisch abhandeln, …

Bleibt auch … Können wir gleich [nachdenken], was sie damit wohl gemeint haben könnte. Also sie hat es offensichtlich nicht theoretisch gemacht.

… aber hier hatten wir besonders zu bedenken, was unser Votum vor dem historischen Hintergrund und im internationalen Kontext bedeutet. Sogar im Urlaub habe ich kaum anderes gemacht, als über dieses Thema nachzudenken.

CP: Da müsste man mal sagen: "Eine Runde Mitleid!" für Frau Woopen.

VS:

Der Ethikrat hat letzlich empfohlen, rechtliche und fachliche Standards für die Beschneidung zu schaffen, etwa zur Schmerzbekämpfung und Einwilligung.

Professor Christiane Woopen, 2019

Also den ersten Fehler hab ich ja schon gleich gesagt am Anfang. Dann ging's mit dem "theoretisch" … also [für] nicht-theoretisch hält sie also den historischen Hintergrund und den internationalen Kontext. Jetzt frage ich dich: Was hat das mit den betroffenen Kindern im Moment zu tun? Was ist jetzt die Theorie und was ist die Praxis? Ich glaube, Frau Woopen hat da was verwechselt. Und mit dem Urlaub, da hab ich ja … am Strand, oder … ich weiß nicht, wo sie da war … oder in den Bergen … da hätte sie ja ab und zu Betroffenenberichte lesen können, die es damals auch gab. Wir haben große Mühe uns gegeben, die Betroffenenperspektiven in die mediale Diskussion auch zu bringen. Und Alex Bachl war ja auch sogar im heute journal. Es gab ja vereinzelte Lichtblicke. Die haben's wohl in ihren Urlaub nicht geschafft.

Und die Krönung ist dann der Schluss. Ja, der Ethikrat hat viel empfohlen. Aber was ist denn mit den rechtlichen und medizinischen Standards, zum Beispiel zur Schmerzbekämpfung und der Einwilligung? Was ist denn bis heute, neun Jahre später, passiert? Der Ethikrat hat das Thema nie wieder angefasst. Was bringen Beschlüsse, wenn sie nie etwas zur Folge haben? Ja, sie sind heiße Luft nämlich. Und das ist auch ganz besonders bitter. Also der Ethikrat hat sich wirklich ad absurdum geführt. Ich find' das übrigens schlimm.

CP: Das ist schlimm.

VS: Also, es mag jetzt vielleicht so sein, dass irgendjemand denkt, der Victor redet sich hier in Rage, und der freut sich darüber. Nee, ich find' das ganz schlimm, weil ich glaube, dass das, diese Beschneidungsdebatte, so wie sie geführt wurde und mit diesem Ergebnis, ganz viel auch zur Gefährdung von Glaubwürdigkeit von politischen und solchen Gremien geführt hat.

CP: Wir sehen ja jetzt gerade in der aktuellen Situation, wie wichtig da so'n Gremium ist, das versucht, abzuwägen und eben, also im Idealfall eben wirklich als die objektivste Instanz gelten kann. Und wenn man das dann sieht und den Satz, das da mit dem Urlaub, und was man hätte lesen können oder was man sich hätte theoretisch abhandeln können … Sie hätte ja … Es gibt ja vom 30. August 2012 'nen großen Artikel in der Süddeutschen Zeitung von Reinhard Merkel, der ja wahrscheinlich dann ihr direkter Vorgänger war, oder?

VS: Nein, der war nicht Vorsitzender. Der war auch im Ethikrat.

CP: Ach, der war auch im Ethikrat. Also von einem ehemaligen Mitglied …

VS: Der gehörte zu den … Professor Merkel …

CP: … des Ethikrats …

VS: Der war damals Mitglied. Der war im Ethikrat und gehörte zu den wenigen Mitgliedern des Ethikrats, die hier Bedenken hatten. Der ist Strafrechtsprofessor in Hamburg. Ich weiß nicht, ob er es noch ist. Also, er war's auf jeden Fall. Ich weiß nicht, ob er schon emeritiert ist. Ja, den gab's.

CP: Das ist natürlich schade. Da steht man dann da …

VS: Solche Gremien haben sich selber beschädigt in ihrer Glaubwürdigkeit. Und das find' ich gefährlich, wo immer mehr Leute sowieso sich abgehängt fühlen von der Politik. Solche Slogans wie wie "Lügenpresse" und so weiter, die immer gängiger werden - ich find' die gefährlich. Und ich finde, wenn man die ernst nimmt, muss man auch die eigene Verantwortung überprüfen, ob man eigentlich dem, was man selber als Institution verkörpern sollte, ob man dem gerecht wird. Mit so einem Vorgehen beschädigt man das Vertrauen in solche Gremien, und das ist 'ne Gefahr für die Demokratie. Und das gehört zu den Folgen des 12.12.2012, über die nie gesprochen wurde.

CP: Ja.

VS: Es wird immer darüber gesprochen, ganz oft, was wohl alles passiert wäre, wenn man hier im Sinne des Kinderschutzes - die drücken sich da ja anders aus, [da] kommen wir auch noch zu - die sagen dann immer: Wenn man die Knabenbeschneidung kriminalisiert hätte - also da kommen wir auch dazu, was daran alles Unsinn dran ist an der … oder, was manipulativ ist an diesem Satz. Ich nenne es so, wie es ist: Wenn man alle Kinder gleich geschützt hätte im Sinne des 1631, wie er einmal angelegt war, mit dem Recht auf gewaltfreie Erziehung. Da wird viel … als eine Drohkulisse gearbeitet.

Hab ich auch schon erlebt, dass Leute mit Rang und Namen, die das nicht ehrenamtlich wie ich machen, mir dann sagen so: Haben Sie eigentlich mal darüber nachgedacht, was das für Folgen hätte? [Rollt mit den Augen.] [Dann] sag ich: Ja, darüber hab ich mir Gedanken gemacht. Ich frage mich, ob Sie sich mal Gedanken gemacht haben, was diese Entscheidung und dieses Verfahren eigentlich angerichtet hat und über die Jahre weiterhin mit sich anrichtet? Was das Vertrauen angeht, zum Beispiel. Was es für ein Signal um die Welt geschickt hat, dass alle nach Deutschland gucken können und sagen: Wie macht man das denn, wenn man ein Gesetz durchsetzen will, was Kinderrechte relativiert? An welchen Schrauben muss man denn da drehen in dem jeweiligen Kulturkreis? Die mögen ganz unterschiedlich sein, weil in Deutschland es ganz andere Mechanismen gibt, politisch-gesellschaftlich, als am anderen Ende der Welt. Es ist nicht überall so wie hier.

Dass man wieder auf so eine … über so'ne Art und Weise über Genitalien spricht, wie … Das möcht' ich gar nicht mehr in den Mund nehmen, diese Zitate von vorhin. Dass sowas hoffähig ist, fünfzig Jahre, nachdem Frauen dafür gekämpft haben, dass Sexualität und Fortpflanzungsfähigkeit, dass das zwei verschiedene Sachen sind, dass sie sich nicht auf Reproduzierbarkeit reduzieren lassen. [Da] müssen sich Männer mittlerweile nachsagen lassen, tja, solang' das Ding "steht und spritzt", funktioniert doch alles.

CP: Tja … [nickt]

VS: Auf dieses Niveau sind wir runtergekommen, durch diesen 12. Dezember 2012. Es geht immer wieder darauf hinaus. Darüber möcht' ich mal Berichte haben. Wenn man das ernst meint, wenn man es ernst meint mit der Demokratie, mit dem … wenn man sich zurecht beklagt über mangelndes Vertrauen in unsere Gremien, ja, dann muss man auch die Ursachen mit wahrnehmen. Nicht nur mit dem Finger auf andere zeigen. Das ist überhaupt immer das Elementare in einem friedlichen, respektvollen Gemeinwesen, dass man selber erst mal bei sich selber guckt, was man tut, und nicht immer auf andere zeigt. Und das fehlt mir ja wirklich komplett.

Und da ist leider der Ethikrat - und das find' ich schlimm, ich find' das ganz schlimm - auf traurige Art und Weise hervorgetreten. Da erwart' ich mal was. Aber zehn Jahre danach - nächstes Jahre haben wir zehn Jahre Kölner Urteil - ja, auf was warten wir denn noch, frag' ich mich da. Also nett, dass du das ansprichst.

Normaler Gebrauch von Genitalien?

Ja, was haben wir noch? Mach du mal bitte das Beispiel Nr. 9. Das ist auch so ein Beispiel, wo wir über Sprache sprechen. Das ist wirklich auch alles eine Folge mit von diesem Tag.

… noch erschwert der Eingriff

Da war also die Vorhautamputation gemeint.

den normalen Gebrauch des betroffenen Körperteils

Das stand in der ZEIT - Patrik Schwarz ist ein leitender Redakteur der ZEIT - am 11.01.2019. Da hab ich erstmal gedacht, ich hab mich verlesen. Also …

CP: Man muss Zeitung lesen, damit man weiß, was man mit seinen Genitalien macht.

VS: Also der "normale Gebrauch eines Genitals". Wir leben in Zeiten, wo Gott sei Dank viel von Diversität die Rede ist, ja, dass Sexualität etwas Vielfältiges ist …

CP: Ja.

VS: … etwas Intimes, was niemand anderen was angeht. Dann steht in der ZEIT, wird dann der normale Gebrauch von Genitalien vorgesch[rieben]. Und das fällt niemandem auf. Also natürlich ist die Pressefreiheit … [die] gilt, und die können da jeden Mist schreiben, den sie wollen. Aber dass da keiner mal sagt: "Hör' mal zu, wir sind die ZEIT, äh, wir sind eine liberale Zeitung, also zumindest sehen wir uns so, das find' ich jetzt aber ganz schön happig."

Offensichtlich … das rutscht so durch. Das ist doch … Also so ein Satz sagt für mich unglaublich viel. Und das hat was damit zu tun mit dem 12. Dezember 2012, weil man da uns das abgesprochen hat oder einem Teil der Menschen das abspricht von Anfang an: "Du hast dich mit dem zufrieden zu geben, was wir dir lassen. Und wir setzen die Grenze fest, was da akzeptabel ist. Aufgrund von dem, was wir wollen, wie wir geprägt sind, wem wir Wünsche erfüllen wollen, oder wie wir unseren eigenen Wünschen entsprechen wollen - wir legen das fest." Und das steht im direkten Zusammenhang. Und da wünsch' ich mir mal Sensibilität. Die müssen die Männer natürlich auch einfordern. Wenn Männer so etwas selber schreiben, zeigt das nur, wie sie tief, tief, bis zum Hals in diesen patriarchalen Strukturen offensichtlich drinstecken und das gar nicht erkennen. Das ist ja oft tragisch. Das Patriarchat richtet sich brutal gegen Männer selbst und die checken's nicht. Ja, das ist auch echt bitter. [Da] müssen wir sehr, sehr wachsam sein.

Professor Reinhard Merkel

Was haben wir denn noch an Zitaten? Interessant wäre bestimmt noch … Ja, lass uns doch mal Professor Merkel nehmen, denn den hast du ja schon vorgeschlagen und der ist wirklich im Jahr 2012 durch einen ganz, ganz großartigen Artikel aufgefallen. Und zwar … jetzt kommt noch ein ganz großer Mythos. Wir haben ja schon so einige Mythosse [Mythen!] gehabt; Beschneidungsgegner haben wir schon gehabt, und … Ach, hier, Kompromiss - dass das Gesetz ein Kompromiss ist, da müssen wir auch noch drüber reden, das ist auch bitter, ein absoluter Mythos.

Aber ein Super-Mythos ist ja, dass es eine schwierige Abwägungsfrage sei zwischen dem Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes und dem Erziehungsrecht und der Religionsfreiheit der Eltern. Ganz schwierig!

CP: Diese hoch-ethischen Fragen …

VS: Und ich rette mich schon wieder so'n bisschen in einen sarkastischen Ton. Bitte brems' mich dabei. Ich muss sagen, das ist wirklich 'ne Flucht auch manchmal.

CP: Das hilft …

VS: … um damit irgendwie klarzukommen. Also, das sei eine schwierige Abwägung. Das kommt immer wieder. So. Und jetzt müssen wir mal das mal kurz "auseinanderklamüsern" - sagt man in Norddeutschland. Haben wir vorhin schon erklärt: Das Recht auf Religionsfreiheit beinhaltet nicht, andere Menschen zu verletzen. Und das erklärt Professor Merkel hier sehr einleuchtend:

Kein Freiheitsgrundrecht, welchen Gewichts immer, gestattet, unter welchen Bedingungen [auch] immer, das direkte Eindringen in den Körper eines anderen, und wäre der Eingriff noch so bagatellhaft. Das folgt nicht erst aus irgendeiner Abwägung. Auch eine solche kommt von Anfang an nicht in Betracht.

CP: Es ist ganz schön. Er nimmt ja auch am Anfang Bezug auf die in den USA … oder es ist, glaub ich, 'ne andere … nee, es ist bei ihm … die in den USA in der Juristenausbildung gewisse Grundsätze eben erklärt werden, und da gibt's eben dieses Beispiel von dem Cowboy, der einem anderen ins Gesicht schlägt und dann das auch zugibt und vor Gericht landet, und dann sagt er: "Ja, aber wir sind doch in einem freien Land. Ich hab doch hier die Freiheit, meinen Arm zu schwingen."

VS: Ah, okay, stimmt, das sagte er.

CP: Genau, und dann wird ihm halt von der Richterin drauf geantwortet: "Das mag sein, aber die Freiheit, den Arm zu schwingen, hört halt bei der Nase vom anderen auf."

VS: So ist es.

CP: Und die Analogie wäre hier ganz klar natürlich. Die Freiheit, hier irgendwas zu tun, hört natürlich dann erst recht beim Penis des anderen auf. Also das …

VS: Ja. Ja, und auch des eigenen Kindes, …

CP: Ja …

VS: … weil dein Erziehungsrecht nicht so weit geht.

CP: Welche Freiheit auch immer da davor sein soll, ist ja ganz egal, also was ich mir ausdenke. Aber da hört sie auf, auf jeden Fall. Das ist so einfach. Wir wissen's doch im alltäglichen Gebrauch eigentlich auch immer: Die Freiheit des einen geht bis zur Freiheit des anderen und nicht weiter.

VS: Ja. Jetzt gibt's Juristen - wissen wir ja, unterschiedliche Auslegung - ich kenn auch welche, die sagen: Naja, du kannst alles miteinander abwägen. Deswegen zu sagen, hier kommt gar keine Abwägung in Betracht, das sagen nicht alle. Die sagen: Doch, das kannst du schon machen. Aber die Antwort ist eben völlig klar. Also ist geradezu lächerlich, überhaupt so zu tun, als sei das schwierig. Nee, in der theoretischen - aber so ist nun mal unser Rechtsstaat, ein Rechtsstaat ist immer auch etwas Theoretisches und die Umsetzung ist häufig schwierig, wie wir ja gesehen haben beim Ladendiebstahl und so weiter …

Die ist immer … also vielleicht meint Frau Woopen das, also dass wir sowas gar nicht mehr machen sollten, so theoretische Sachen, weil … Ich weiß nicht. [Da] kann sie sich ja noch irgendwann mal dazu erklären; sie ist ja so wahnsinnig besonnen und vielleicht hat sie mal wieder Urlaub und hat Zeit, darüber nachzudenken.

Das sagen schon manche, dass man das abwägen kann. Aber das ist eben ganz klar, dass es das nicht hergibt, nicht wahr? Und da gibt's noch einen Merkel-Satz, den wir haben.

CP: Das ist die 25, glaub ich.

[Folie Prof. Reinhard Merkel, August 2012 #2]

VS:

Hier gibt es nichts abzuwägen. Einer Auskunft des Bundesverfassungsgerichts bedarf es dafür nicht. Man trete einmal aus der hitzigen Debatte um das Kölner Urteil einen Schritt der Besinnung zurück …

Ja, das wäre überhaupt gut gewesen.

Wäre es nicht grotesk, hätten Religionsgemeinscahften eine autonome Definitionsmacht, wann und wie sie in den Körper von Personen, die dazu keine Einwilligung gegeben haben, eindringen oder auch nur ein abwägendes Räsonnement darüber verlangen dürfen?

Ja, jetzt ist nur die Sache: Präsident des Bundesverfassungsgerichts ist ja seit einiger Zeit Herr Professor Harbarth, und der hat als CDU-Abgeordneter - dreimal darf man raten - auch für dieses mehrfach verfassungswidrige Gesetz gestimmt. Das ist natürlich wieder, ja, für uns wieder heftig, wenn man weiß, dieses Gremium, was letztendlich das, wenn es dann mal - die Hürden sind hoch, haben wir gesagt - mal zur Diskussion käme, darüber zu entscheiden hätte, wird von jemand angeführt, der das selber mit beschlossen hat. Ich kann's nicht begreifen. Man müsste das die Leute selber fragen, aber die sagen ja nichts dazu.

Ja, das sagt wirklich alles. Diese Abwägung existiert für die grundsätzliche Abwägung, welche Haltung man zu dem Thema hat, nicht. Wenn es dir darum geht - und darum geht's uns ja auch als Verein - Kinder letztendlich zu schützen, ja, dann ist die natürlich sehr interessant. Weil, natürlich ist das wichtig, dass man erkennt: Warum tun Menschen das, die Menschen, jene Menschen? Warum sehen das Ärzte manchmal so, dass sie da nicht nach Leitlinien handeln? Das interessiert mich. Mich interessiert, warum Eltern das mit ihren Kindern [machen] wollen. Mich interessiert unser multikulturelles Zusammenleben. Das ist wichtig; wir lernen voneinander; wir müssen uns zuhören. Da interessieren mich diese ganzen Punkte. Da ist es tatsächlich auf dem Weg zur Umsetzung auch ein Abwägen manchmal. Vielleicht brauchen manche Prozesse länger als andere. Aber das hat überhaupt nichts damit zu tun, welche grundsätzliche Haltung in einem Rechtsstaat einzunehmen ist.

Bitte nimm mal die Folie von Frau Klimke, Nr. 8. Denn da können wir sehen, an welcher Weggabelung wir eigentlich gerade stehen.

[Folie Romy Klimke]

Da gibt's nämlich jetzt mittlerweile schon auch in deutscher Sprache, aus Deutschland, Arbeiten, die durchaus den Schutz von Mädchen infragestellen. Also auch da wieder Frau Zypries, die ja meinte, das gibt es alles nicht. Also a) gibt's das bei Gerichten, aber das gibt's auch in Beiträgen.

Ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung von Mann und Frau …

… Also da fehlen natürlich die diversen Menschen. Ich weiß nicht, warum sie die vergessen hat.

… ließe sich letztlich nur umgehen, wenn einerseits 226a Strafgesetzbuch

Wir erinnern uns, das war der Schutz von weiblichen Personen.

… mittels theolo…

CP: Teleologischer.

VS: … teleologischer Reduktion auf Eingriffe, welche in einem nicht medikalisierten Umfeld stattfinden, beschränkt oder andererseits die Entfernung der Klitorisvorhaut …

Wir erinnern uns an Australien. Die Welt ist ganz schön eng zusammen.

… aus dem Tatbestand [des Schutzes von Mädchen] herausgenommen [würde] und unter den Bedingungen des [der Jungenschutzlosigkeit] ebenfalls legalisiert würde.

Was ist das Spannendste daran? Also, als ich das gelesen hab, hab ich gedacht: Auf eine Idee kommt sie ja gar nicht. - Sie kommt ja nur darauf, Mädchen in gewissem Umfang auch schutzlos zu stellen, um "den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung" durchzusetzen. Sie kommt gar nicht auf die Idee …

CP: Also, dass diese ganz leichten Beschneidungen dann …

VS: Ja, was wir jetzt gehört haben: Einstiche, und Klitorisvorhaut, [das] ist deutlich weniger Gewebeentfernung als bei der männlichen Vorhautamputation, denn die Vorhaut ist viel größer.

CP: Also, man könnte doch einfach das andere …

VS: Was könnte man denn auch machen, um "den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung" …

CP: Ja, den 1631d streichen.

VS: Ja, einfach alle Kinder gleich schützen.

CP: Ja!

VS: Und nicht alle Kinder gleich schutzlos stellen. Das ist die einzige Idee, auf die Frau Klimke hier kam, an der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg. Hab ich auch nicht verstanden. Aber so weit sind wir schon. Und daran sieht man, dass der Schutz von Mädchen gefährdet wird, solange Jungs schutzlos sind. Weil solche Leute gar nicht auf die Idee kommen, die Gleichbehandlung so zu lösen, dass auch Jungs geschützt werden. Sie kommen nur auf die Idee, die so durchzusetzen, indem sie Mädchen auch schutzlos stellen. Und vor dieser Weggabelung stehen wir eben.

Der Gleichbehandlungsgrundsatz der Geschlechter ist ein ganz starker Grundsatz in unserer Verfassung, und nicht nur in unserer, sondern Gott sei Dank in vielen Teilen der Welt. Und wir stehen an der Gabelung, zu sagen, entweder mehr Schutz für alle Kinder, oder weniger Schutz für alle Kinder. Man muss sich für [et]was entscheiden. Aus der Nummer kommen wir nicht raus. Das ist ganz, ganz wichtig. Und da wird auch mittlerweile zu geforscht. Also man kann da auch aus, gerade aus USA Aufsätze lesen und in Unis, wo man darüber diskutiert: Wie gehen wir damit um? Wie können wir in Zukunft effektiver auch Mädchen schützen zum Beispiel? Ist es nicht auch für Mädchen letztendlich effektiver, wenn ihr Schutz - ich hab's vorhin schonmal angesprochen - widerspruchsfrei begründet werden kann und nicht so mit Pi-mal-Daumen, [ab] durch die Mitte, und indem man gar nicht weiter groß drüber redet? Das ist schwach. Das ist schwach. Und Kinder brauchen starken Schutz, und dafür müssen wir Erwachsene natürlich ab und zu auch mal schwierige Diskussionen eingehen. Schwierige Wege, ja, richtig, die können auch länger dauern …

CP: Aber jetzt bedienst du den Mythos. Es ist ja eigentlich keine schwierige Diskussion. Also wir haben …

VS: Die Diskussion nicht. Aber die Umsetzung ist schwierig.

CP: Die Umsetzung ist schwierig.

VS: So. Und was bei uns in Deutschland schwer ist, ist woanders vielleicht gar nicht schwer und andersrum. Und das ärgert mich ganz oft - auch darüber, äh, darüber ärger' ich mich oft, wie sehr wir mit dem Zeigefinger auf andere Länder schauen. Gerade […?], was weibliche Genitalverstümmelung betrifft. Da muss man ja wirklich mal hier so zeigen, wo der Hammer hängt, und mit Menschenrechten … und so weiter. Ja, und wie ist das für die Menschen da? Das ist deren Kultur, die sind das so gewöhnt, und so weiter. Es ist medikalisiert auch zum Teil. Dann kommen wir an und sagen: Das ist aber alles barbarisch. Und wir haben selber nämlich unsere schwarzen Flecken, unsere blinden Flecke, genauso wie die ihre auch haben.

Und ich glaube, dass man letztendlich erfolgreicher ist - ich hab's vorhin schon mal gesagt, ich wiederhol das auch gerne - wenn man erstmal vor der eigenen Tür kehrt. Das ist nämlich … das ist Respekt voreinander haben. Nicht mit dem Finger auf andere zeigen. Und insofern stehen wir vor dieser Weggabelung und ich hoffe, dass das immer mehr ernstgenommen wird.

Was haben wir denn noch alles Schönes? Die Schwarz hatten wir … Also das Schlimme ist immer - das muss ich auch nochmal sagen - gerade was den Schutz von Mädchen und Frauen angeht: Wir haben vorhin den Artikel aus Australien gehabt über diese Verurteilung jetzt dieser Mutter, die das geplant hatte. Und ich hatte ja gesagt, dass erst ganz am Schluss des Artikels eigentlich darauf hingewiesen worden ist, dass es sich um eine medikalisierte Form von FGM gehandelt hätte, wenn das so gewesen wär'. Und vorher hat man das aber gar nicht erwähnt, sondern da hat man nur von Afrika, auch in dem Artikel, geredet. Und da hab ich mich nämlich auch - das fiel mir jetzt eben nochmal ein - gefragt, als ich das gelesen hab: Traut man sich das nicht? Traut man sich das gar nicht, auch wirklich ganz aktiv in den Medien, den Schutz von Mädchen auch vor diesen medikalisierten Formen einzufordern? Weil das so auffällig ist, dass man Dinge beschreibt, die da gar nicht zur Diskussion standen.

CP: Ja. Ja.

VS: Und man weiß ja aber, dass es so ist, also das kam ja dann am Schluss irgendwie. Warum ist das so? Und da hab ich nur zwei mögliche Antworten gehabt. Die eine wäre, dass man ja unbedingt irgendwie unterm Teppich halten muss, dass damit ganz klar ist die Ungleichbehandlung zu den medikalisierten Formen von männlicher Genitalverstümmelung. Wir haben ja gehört, die ist nicht immer medikalisiert; die gibt's auch in allen möglichen Formen, nicht wahr?

[Hält Ulwaluko-Artikel hoch.]

Das wäre eigentlich die negative Auslegung, also 'ne attackierende, das ist also 'ne sexistische Motivation, [wo] cultural bias eigentlich auch dahintersteckt. Und die andere Möglichkeit wäre, ob man befürchtet, dass das dann bei Mädchen auch nicht zieht in der Öffentlichkeit. Dass man auch den Schutz von Mädchen nur wirklich öffentlichkeitswirksam darstellen kann, wenn man immer die Maximalkeule rausholt, die ja laut TERRE DES FEMMES 15 % der weltweiten Fälle darstellt, also 85 % der Fälle nicht. Die fallen da nämlich unter den Tisch. Und das find ich wirklich bemerkenswert.

Sind wir mittlerweile so drauf, dass, wenn nicht irgendwie wirklich das Wort "Verstümmelung", "Zunähen", "Blut im Wüstensand" da ist, dann sind uns Mädchen dann auch egal in ihrer sexuellen Selbstbestimmung? Ich weiß es nicht, aber diese Fragen stellen sich mir, weil das so auffällig ist.

CP: Ja.

VS: Wir hatten beim Weltweiten Tag der Genitalen Selbstbestimmung am 7. Mai 2018 den Schwerpunkt "Weibliche Genitalverstümmelung in Asien", wo eben in erster Linie diese medikalisierten Formen stattfinden. Und da war das Medieninteresse in Deutschland noch geringer als sonst.

CP: [lacht]

VS: Und das schockt mich eigentlich bis heute. Zieht das nicht? Ich versteh' es nicht. Ich geb' die Frage weiter: Was haben wir verstanden von Menschenrechten, wenn sie, im medikalisierten Milieu durchgeführt, nicht genug schocken? Also, ich weiß es nicht, Christoph. Aber ich find' das auffällig. Und das macht mir ganz große Sorge.

CP: [sprachlos]

VS: [Da] haben wir glaub ich noch viel zu tun.

CP: Das wäre jetzt auch die Frage: Wie geht's denn weiter? Ich meine, worüber reden wir denn heute in einem Jahr?

VS: So genau … Och, naja. In einem Jahr wird sich wahrscheinlich … Ja gut, in einem Jahr: Nächstes Jahr haben wir zehn Jahre Kölner Urteil. Das ist natürlich ein großes Jubiläum. Der Kölner … der 7. Mai ist ja sozusagen das positive Gegenstück zum 12. …

CP: 12.12.

VS: … Dezember, denn das war ja ein Symbol für Kinderschutz und für die Unteilbarkeit von Kinderrecht. Für genau das, was ich vorhin meinte, für das selber in den Spiegel schauen, zu gucken, was läuft da eigentlich an blinden Flecken in unserer Rechtsprechung ab, in unserer Wahrnehmung, was Verletzlichkeit von Menschen angeht? Verletzlichkeiten äußern sich ja nicht immer aktiv nach draußen. Das liegt auch nicht jedem. Das ist bei allen Themen so, gerade die intime Verletzungen angehen. Die Menschen gehen nicht in Massen auf die Straße, sondern viel Protest findet höchstens intern statt.

Vorhautrestaurierung

Oder zum Beispiel auch - ich sag mal, eine Form des internen, äh, des intimen … Protests für sich - es sind zum Beispiel diese Wiederherstellungsgeräte. Die gibt's aus den USA in erster Linie vertrieben, [das] sind Geräte, wo man sich als betroffener Mensch mit Penis die Restvorhaut dehnen kann, je nachdem, wieviel man noch hat - das ist sehr, sehr unterschiedlich; es klappt auch unterschiedlich gut - aber gewisse re-sensibilisierende Effekte erzielt. Gewisse. Und jeder, der das tut, ist für mich auch immer jemand, der damit zum Ausdruck bringt: Ich bin nicht glücklich damit, mit dem Ergebnis. Ich möchte was daran ändern. Ich möchte wieder ein Stück Kontrolle, Selbstkontrolle über mich zurückgewinnen, etwas von dem Potenzial abrufen können, was gerade nicht abrufbar ist, aber was vielleicht doch noch da ist, was ich noch retten kann.

7. Mai: WWDOGA

Also das spielt alles eine Rolle. Und der 7. Mai gibt dem Ausdruck, den ganzen, die nicht sprechen. Das ist auch bei uns in der Vereinsarbeit so. Bei uns sind Vereinsmitglieder, die nach draußen darüber nicht sprechen können. Die, wenn sie das mal machen, das sich wirklich sehr überlegen, weil sie das so re-traumatisiert und belastet, dass sie lange nicht arbeitsfähig sind, falls sie überhaupt arbeitsfähig sind aufgrund der Dinge, die sie mit sich tragen. Der 7. Mai gibt denen eine Stimme. Wieviele das sind, wissen wir nicht. Das wissen wir aber bei keiner Gewaltform. Wir kriegen immer nur wenige mit, die sich eben wirklich, wirklich äußern.

Das Kölner Urteil steht auch dafür, eben keinen Unterschied zu machen, alle Betroffenen gleich anzuerkennen, egal, wie geschlechtlich sie sich selber sehen oder wie sie zugeordnet sind. Der 7. Mai steht dafür, sich weltweit interkulturell zu begegnen, sich auszutauschen über die Wege, die in dem jeweiligen kulturellen Kontext, in dem die Menschen leben, eben zielführend sind. Oder was sie für Erfahrungen gemacht haben, die bei ihnen nicht zielführend sind. Die stehen für diesen Respekt voreinander. Und da wünschen wir uns natürlich für dieses besondere Jubiläum auch einen ganz besonderen Weltweiten Tag der Genitalen Selbstbestimmung nächstes Jahr, obwohl ich das wahrscheinlich auch jedes Jahr irgendwie sag'. Also jeder 7. Mai ist immer besonders gewesen. Also der jetzige, das war ja "nur" der neunte - der war ja auch besonders.

[VS hält einen Flyer zum WWDOGA 2022 hoch.]

Und ich kann alle wirklich nur neugierig machen auf …

CP: Halt's mal so … [Hält den Flyer in die Kamera.]

VS: … Sehr gerne … auf die Streams des WWDOGA. Es gibt jetzt seit heute einen neuen YouTube-Kanal des Worldwide Day of Genital Autonomy, in dem alle Videos seit 2013 abrufbar sind. Die größte Sammlung von Sendungen hatten wir tatsächlich bei diesem ganz normalen, "banalen" neunten Weltweiten Tag. Das war natürlich ein bisschen Pandemie-bedingt, dass wir - Was heißt "ein bisschen"? Also ausschließlich! - Pandemie-bedingt. Ich weiß nicht, ob wir sonst auf die Idee gekommen wären, diese digitalen Formate auch so zu integrieren, dieses Jahr mit 12 Stunden Sendungen. So eine Sammlung aus so vielen Ländern mit so verschiedenen Menschen und so vielen Perspektiven hat's noch nie zu dem Thema "genitale Selbstbestimmung" gegeben.

Mal sehen, was im nächsten Mai möglich ist. Es wird mehrere größere Fachtagungen geben im kommenden Jahr: eine an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz und eine an der Universität in Luzern. Mal sehen, was noch so dazukommt. Ich weiß nicht, ob wir auch in der parlamentarischen Arbeit vorankommen im Laufe des nächsten Jahres. Es gibt einen neuen Bundestag; sicher, da sind viele neue Abgeordnete … wird man sehen. Also, es hängt von so vielen Faktoren ab und es sind so viele Instanzen auch dafür notwendig, die eigentlich sich mit dem Thema beschäftigen sollten, dass ich das ganz schwer voraussehen kann. Ich wünsch' mir das und ich fänd' es wichtig, weil es jeden Tag weitergeht.

Wir haben jedes Jahr 400 stationäre Fälle nach Komplikationen [bei] Jungs in Deutschland, nach einer Untersuchung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Das kann man auf neun Jahre hochrechnen, 9 x 4, [das sind] 3.600 Kinder in neun Jahren. Das ist die Spitze des Eisbergs. Was hinter den Kulissen noch passiert, wissen wir nicht.

CP: [nickt]

VS: Es sind tausende Kinder. Wie viele Betroffene in diesen Jahren für sich entdeckt haben, dass sie darunter leiden, sich darüber im Klaren wurden, wissen wir auch nicht.

CP: Es gibt ja auch Abstufungen, die halt nicht ins Krankenhaus kommen, aber trotzdem halt alles andere als Wohlgefühl auslösen.

VS: Ja, eben. Das mein' ich, das sind … das geht alles in die Tausende. Es geht jeden Tag weiter. Ich kenne auch Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind und Rekonstruktionsoperationen brauchen, weil Teile der Eichel weggeschnitten worden waren als Kinder und sie jetzt zum ersten Mal überhaupt in Deutschland versucht haben, medizinische Hilfe dafür zu bekommen. Von denen spricht niemand. Die Scham ist gigantisch. Die werden nicht wahrgenommen. Da gibt's keine Zeitungsberichte und Stories.

Wir müssen es erkennen, dass wir uns gesamtgesellschaftlich auf diesen Weg machen müssen. Und das geht auch. Also, in den neun Jahren, diese Veranstaltungen, dies es gab, haben ja immer wieder gezeigt, dass man dieses Thema sachlich-respektvoll behandeln kann. Ich glaube, dafür gibt's mittlerweile genug Beispiele.

Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention

Und es gibt auch Appelle zum Beispiel. Das kann ich auch nochmal vorstellen: Das Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention, die National Coalition Deutschland, hat in ihrem ergänzenden Bericht 2019 …

CP: [hält den gerade erwähnten Titel in die Kamera]

VS: … aufgefordert, dass die Bundesregierung dieses Gesetz zu überprüfen hat. Und da sind alle an Rang und großen Namen der Kinderrechtsorganisationen in diesem Netzwerk vereint. Das steht da drin. Ich erwarte, dass das passiert.

CP: Den Hinweis kriegen die Abgeordneten auch nochmal von euch, oder?

VS: Naja, das haben die schon längst bekommen. Das ist von 2019. Die Abgeordneten, die haben ja schon damals gewusst, was sie taten. Wir haben ja den Bericht der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin vorhin ausführlich behandelt. Es hat auch wenige große Zeitungsartikel gegeben, das kann ich auch mal sagen. Klar, es gab das vereinzelt. Hier, vor einigen Jahren - Wann war das denn? Ich vergess' manchmal schon, wann die Sachen waren - das war 2019, eine Doppelseite in der Frankfurter Rundschau, mit Önder Özgeday und mir ein großes Interview. Das hat's gegeben, und die Welt ist danach nicht untergegangen.

Also es gibt schon genügend Beispiele, die gezeigt haben: Man kann darüber reden und man kann darüber sachliche Informationen verbreiten. Aber es braucht mehr Beteiligte und die Menschen müssen erkennen, dass sie da in der Verantwortung stehen. Und das sind auch die entsprechenden Politiker. Was sie getan haben, haben sie getan. Aber sie haben alle die Wahl, ab morgen etwas anderes zu tun und sich zu beteiligen auf ihren Wegen, die sie gehen können. Es muss nicht so weitergehen. Und den Preis dafür, wenn sie nichts tun, zahlen nämlich nicht sie. Den zahlen nicht wir Erwachsenen …

CP: Den zahlen die Kinder.

VS: … den zahlen in erster Linie die Kinder und die Betroffenen lebenslang. Und das muss man sich immer wieder vor Augen halten. Und deswegen ist das Thema heute so aktuell wie vor neun Jahren und in einem Jahr werden wir wieder in irgendeiner Form versuchen, in die Öffentlichkeit zu gehen, um eben Möglichkeiten zu schaffen, wo sich die Menschen informieren können. Jetzt haben wir heute ziemlich viel Zeit gehabt. Ich weiß gar nicht, wie lang wir jetzt schon gesprochen haben.

CP: Wir sind bei 2 Stunden und 45 Minuten.

VS: Aber das war nicht, wo wir angefangen haben, oder? Das stimmt nicht. Nee, ich glaub', da hat die Uhr bestimmt an 'ner anderen Zeit …

[grinst, da das Gespräch nach den ersten ca. 15 Minuten nochmal wegen technischer Probleme neu gestartet werden musste]

Wie lange haben wir jetzt gesprochen? Sag uns das nochmal kurz, dann können wir gleich noch ein nettes Schluss…

CP: Naja, es wird jetzt 17:46 [Uhr] sein, oder. 15 Uhr plus neuer Anlauf; 15:15 [Uhr] haben wir angefangen; dann sind's … Es ist schon viel Zeit, was …

VS: Dann reicht das für heute …

CP: Dann reicht das heute. Was noch passieren wird: Es wird natürlich im Lifestream, der auf YouTube bleiben wird, einiges an Links auch noch sein, um die ganzen Sachen, die wir behandelt haben, auch nochmal nachlesen zu können. Es gibt einen Haufen Artikel, die natürlich immer noch online sind und so, also die sich lohnen zu lesen. Genauso gibt's weiterführende Links auf den neuen WWDOGA-Kanal und auch …

VS: WWDOGA heißt Worldwide Day of Genital Autonomy. Das sagen wir auch zu schnell. Ist leider noch nicht so "common".

CP: Ja, man erntet immer so "stutzende" Gesichter, aber ja, es ist letztlich …

VS: Der WWDOGA hat ein ganz einfaches Motto, und dieses Motto heißt - kann man das lesen in der Kamera? -

CP: Ah, da muss ich auf die Kamera schalten.

VS: - Zeig doch mal bitte auf die Kamera, weil das so wichtig ist. So einfach ist das eigentlich. Und wir brauchen einfach ein bisschen Mut, diesen Weg zusammen zu gehen. Das wird alles verlinkt, genau. Und Sie brauchen ja, oder ihr braucht ja auch nicht alles auf einmal zu schauen - das habt ihr jetzt vielleicht sowieso nicht gemacht - das ist ja das Gute bei diesem Format. Wir haben viele kurze Formate. Ich mache auch immer wieder neugierig oder weise gern darauf hin, versuche, neugierig zu machen auf die Serie "Eine Minute für Genitale Selbstbestimmung". Das haben wir vor drei Jahren versucht, so im Eine-Minuten-Format. Heute haben wir uns für ein anderes entschieden, um mal wirklich ausführlich über alles zu sprechen. Man kann weiterklicken, unterbrechen, ein andermal weitersehen, aber unser Ziel war heute eben, mal möglichst viel zur Sprache zu bringen. Denn man hat da wirklich eine ganze Menge zu besprechen. Denn das Thema ist - da geb ich ja allen Recht, auch Leuten, mit denen ich überhaupt nicht einer Meinung bin - das Thema ist schwierig. Das ist eben echt schwierig.

CP: Wär's nicht schwierig, wär's kein Thema.

VS: Ja. Danke fürs Zusehen, danke fürs Interesse, danke Christoph.

CP: Ja, danke Victor, für immer wieder neue Einsichten in höchstkomplexe Zusammenhänge hier. Ja, danke fürs Zusehen. Dann drücken wir auf Stopp. Danke an die Technik.

VS: Bitte sprechen Sie mit Menschen darüber, sprechen Sie es an. Jeder […?] kann natürlich was dazu beitragen.

CP: Das wäre gut. Okay, das nehmen wir noch mit, weil … Was mach ich denn jetzt, wenn ich vor dieser riesigen, komplexen Gemengelage stehe und mir denke: Ja, das ist ja krass! Aber kann ich jetzt mit meinem Leben so weitermachen? Kann ich irgendetwas tun?

VS: Ja, man kann zum Beispiel widersprechen, wenn irgendjemand sagt "ein Fetzen Haut". Man kann, wenn irgendjemand sagt: "Ach so, mein Kind wird jetzt übrigens beschnitten; da hat der Arzt was gesagt." Da kann man mal nachfragen: "Okay, es geht mich jetzt nichts an, aber wart ihr da nur bei einem Arzt oder habt ihr euch mal durchgelesen, was - das ist ein wichtiger Literaturhinweis - was der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte dazu in mehreren Sprachen veröffentlicht hat?" Hier zum Beispiel türkisch und deutsch.

[Hält die entsprechenden Flyer hoch.]

Es gibt das aber auch noch in Arabisch, das liegt hier so … - "Hat man das zumindest mal durchgelesen, bevor man dem Kind eine irreparable …

CP: Irreversible …

VS: … irreversible vor allen Dingen - dankeschön - Operation zumutet?" Das müsste …

CP: [Hält die Flyer in die Kamera und zeigt auf das Logo "bvkj".]

Der BVKJ ist der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte.

VS: Genau. Also da kann man zum Beispiel nachfragen. Man kann auf Veranstaltungen, wo Politiker sind und ganz viel über die Gleichberechtigung der Geschlechter reden - richtigerweise - kann man sie daran erinnern, dass es Gesetze in Deutschland gibt, die Kinder nach dem äußeren Genital einteilen und ihnen je nach diesem äußeren Genital unterschiedliche Schutzrechte ab- oder zusprechen. Das gibt's nur in Deutschland! Kein Land auf der Welt hat drei verschiedene Gesetze dafür. Darauf kann man sie zum Beispiel ansprechen. Das kann jeder tun. Oder man kann neue Wege erfinden, in Schulen zum Beispiel Aufklärungsprojekte von sexualaufklärerischen Instituten, da kann man nachfragen, ob die das Thema mit beinhalten. Man kann in Beratungsstellen fragen, ob sie sich des Themas bewusst sind. Man kann Räume schaffen. Also Entschuldigung, das haben Frauen echt uns Männern wirklich vorgemacht, wie man über solche Dinge sprechen kann und Respekt einfordern. Das müssen wir Männer eben auch lernen. Das war für die Frauen sicher auch sehr schwer, und sie haben sich damit auch bestimmt nicht nur beliebt gemacht am Anfang. Aber man musste da eben füreinander einstehen. Und Menschen müssen füreinander einstehen, besonders, wenn's eben um Kinder geht. Vielen Dank.

CP: Vielleicht kann man anhand der Kinder, wo wir uns eigentlich alle einig sind, auch gewisse Spaltungen wieder rückgängig machen.

VS: Ja, klar.

CP: Weil das ist doch das Gemeinsame, was wir eigentlich wissen: A) sind Kinder unsere Zukunft und B) tun wir alles dafür, dass die 'ne Zukunft haben und dass sie die möglichst unversehrt erleben.

VS: Ja.

CP: Eigentlich keine Diskussion [nötig]. Aber damit ist das Schlusswort erreicht.

VS: [Ich] finde auch, das war jetzt okay. Dankeschön.

CP: Danke.

VS: 'Ne gute Zeit, tschüs.

Einzelnachweise

  1. REFweb Claudia Roth: Bundestag und erstmaliger Parteivorsitz, Wikipedia. Abgerufen 14. Februar 2022.
  2. REFweb Zaimoglu, Feridun (6. August 2012). Der Staat hat sich nicht zu überdehnen, Quantara. Abgerufen 14. Februar 2022.
  3. REFnews Habekuß, Fritz / Sebastian Kempkens (11. Juli 2018)."Beschneidung: Die Prüfung ihres Lebens", DIE ZEIT, 29/2018. Abgerufen 14. Februar 2022.