Ein schwarzer Tag für die Kinderrechte - wie lange noch?/Transskript

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Christoph Pabst: Herzlich willkommen in München beim Livestream zu der heutigen Gesprächsrunde mit Victor Schiering.

Wir sprechen heute über den 12.12.2012 - also heute vor neun Jahren. Da hat der Bundestag das sogenannte Beschneidungsgesetz verabschiedet. Und sprechen tu ich mit Victor Schiering. Victor ist der Vorsitzende von MOGiS e.V. MOGiS e.V. ist ein Verein, der sich um die Rechte kümmert von Betroffenen, um Eingriffe in die sexuelle Selbstbestimmung, im Kindes- und Jugendalter. Und da fällt zwangsläufig die Beschneidung rein.

Ja, Victor, schön, dass wir uns hier unterhalten. Es ist 2021. Vor neun Jahren wurde 'n Gesetz verabschiedet, und heute reden wir darum. Das ist 'n bisschen spät, vor allem im 3. Jahr Pandemie denkt man sich auch, es gibt wahrscheinlich Wichtigeres oder sowas. Warum kümmern wir uns heute um die "alte Kamelle" 1631

Victor Schiering: d …

CP: d …

VS: … BGB. Ja. Schön! Es freut mich auch, dass ich hier sein kann. Wir haben immer darüber gesprochen in den ganzen Jahren. Also das hat ja nie aufgehört. Wir reden heute mal wieder darüber, diesmal in einem anderen Format. Wir haben jetzt eben diese lange Sendezeit uns auserkoren, um mal wirklich diese ganzen Geschehnisse von damals zu rekapitulieren. Denn die Folgen von damals, die bestehen ja bis heute, und zwar für die Betroffenen. Die haben niemals aufgehört, und insofern gelten die weiterhin und sind eine Herausforderung für diejenigen, die die Verantwortung für diese Folgen tragen. Und darüber müssen wir reden. So ist ja auch ein Titel dieser Sendung: "Wir müssen reden!"

CP: Die Geschichte ging ja nicht los mit dem Beschneidungsgesetz, sondern es ging ja los mit dem Urteil vom Landgericht in Köln vom 7. Mai 2012. Was wurde denn da entschieden? Und zu welchen Diskussionen hat das geführt?

VS: Also, ich sag jetzt lieber nochmal kurz, was das Gesetz überhaupt beinhaltet, wenn jetzt Leute zum ersten Mal diese Sendung gucken und sagen: "Was heißt das - Beschneidungsgesetz?" Das heißt eben, dass medizinisch nicht notwendige Vorhautamputationen an minderjährigen Jungen im Erziehungsrecht der Eltern im Bürgerlichen Gesetzbuch legalisiert worden sind. Im gleichen Gesetz ist dann gleich ein Paragraph, wo das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung festgesetzt ist. Das ist das Ergebnis, also die völlige Schutzlosstellung und auch weitgehende Rechtlosstellung von Jungen gegen diesen Eingriff.

Dem vorausgegangen - völlig richtig - war eine kurze, heftige Debatte in Deutschland im Jahr 2012, die ausgelöst war durch ein Urteil des Kölner Landgerichts am 7. Mai 2012. Damals war entschieden worden, dass eine medizinisch nicht notwendige Vorhautamputation an einem Jungen eine Straftat darstellt - nach geltendem Recht - wie ich eben beschrieb, nach dem Recht auf gewaltfreie Erziehung.

Und das hat sehr heftige Reaktionen bei vielen Interessenverbänden, bei Politikern. [Da] ging gleich ein großer Streit los. [Es gab] sehr, sehr viele Stimmen, die dieses Urteil für nicht gut hielten, aber auch einige, die das unterstützten.

Inhaltsverzeichnis

Der Antrag

Und der Bundestag hat dann sehr schnell, bereits am 19. Juli, einen Antrag verabschiedet in der letzten Sitzung vor der Sommerpause, …

CP: Den haben wir hier …

VS: Genau, damals … da gab's die Spanien-Kredite, die wurden da veranschlagt, und das hat zu einigen Tumulten geführt, weil sich einige Abgeordnete nicht hinreichend informiert fühlten. Und wenn du magst, kannst du ja mal vorlesen …

CP: Der hat's auch schon in sich - gleich der erste Absatz, also: "Der deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, im Herbst 2012", also der Antrag ist vom 19.7., also quasi binnen drei Monaten, "… im Herbst 2012 unter Berücksichtigung der grundsätzlich geschützten Rechtsgüter des Kindeswohls, der körperlichen Unversehrtheit, der Religionsfreiheit und des Rechts der Eltern auf Erziehung einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sicherstellt, dass eine medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich zulässig ist." Also das Ergebnis ist ganz klar vorausgenommen.

VS: Genau!

CP: Also es geht nicht darum, zu erforschen, wie gehen wir damit um, wie können wir Rechtssicherheit herstellen, sondern es geht darum, wie wollen wir am Ende, dass das zulässig ist.

VS: Ja, Rechtssicherheit war schon das Ziel dieser Befürworter, aber eben Rechtssicherheit für die Erwachsenen, nicht für die Kinder. Und interessant ist das mit den unnötigen Schmerzen. Also nötige Schmerzen müssen Jungs eben wohl ertragen, wenn Erwachsene das eben in Kauf nehmen für ihre Vorstellungen, die sie an dem Kind verwirklichen. Und was auch noch wichtig ist zu wissen [ist] das, was da eigentlich passiert: Da steht ja nur "Beschneidung" - sowieso ein merkwürdiges Wort, da können wir auch noch drüber sprechen heute. Was da anatomisch passiert, ist überhaupt gar nicht beschrieben, aus was dieses Organ besteht, was da gemacht wird. Das ist alles so ein bisschen im Nebulösen, davon finden wir nichts. Also: nicht definiert, und dann auch noch das Ende der Debatte eigentlich vorausgenommen.

CP: Wir sehen ja, was damals schon irgendwie für 'ne Art Fahrlässigkeit oder Fehler gemacht wurde. Vielleicht machen wir den ja eben nicht und fangen genau damit an, dass wir mal klären: Worum geht's denn eigentlich? Was ist das, das gemacht wird?

Worum geht's denn eigentlich?

Da haben wir auch eine Folie …

CP: Ja, da kann man nämlich mal sehen, was da eigentlich anatomisch mit der Vorhaut eigentlich vorliegt. Es ist eben kein Stück Haut, was übersteht, sondern eben eine Doppelhautfalte mit verschiedener Oberflächenstruktur. Es gibt eine Außenhaut, eine innere Vorhaut, es gibt muskulöses Gewebe. Besonders das Vorhautbändchen ist eben mit sehr sensiblen Nerven ausgestattet, sehr stark wichtig für die Sexualempfindung. Man sieht auch, wie groß der Umfang ist. Auf dem zweiten Bild, auf der Hand, ja, und dann auch bei zurückgestreifter Vorhaut in der unteren Zeile in der Mitte, wieviel das eigentlich ausmacht. Es ist ungefähr die Hälfte der am Penis befindlichen Haut, die weggeschnitten wird - und der sensibelste Teil. Das ist auch vielfach nicht bekannt. Aber das ist Stand der Medizin. Das ist auch in den gültigen Leitlinien so festgestellt, das ist Wissensstand.

[CP und VS bekommen Kaffee und nehmen einen Schluck.]

CP: Ja, so eine Folie fehlte natürlich total in dem Gesetz. Darüber hat überhaupt niemand gesprochen. Im Bundestag hab ich keine einzige, auch selbst die guten Reden … Naja, sagen wir mal so: Wer sich da für den Schutz von Kindern ausgesprochen hat, der musste das ja auch nicht, weil damit war ja auch der Wert, die Wertschätzung vor der Intimsphäre auch eben dieser Kinder und späterer Erwachsener ja zum Ausdruck gebracht. Aber diejenigen, die eben ihre eigenen Maßstäbe auf Kinder anwenden wollten, womit man sich eben zufrieden geben muss, was einem dann als Erwachsener an Genitalien bleibt, die sind auf gar keine Details eingegangen. Sicher nicht verwunderlich. Man wollte ja auch gar nicht, dass man da so viel drüber spricht.

CP: Ja, es ist ein Tabuthema, natürlich. Also was auf eine Art und Weise … geht ja auch niemanden was an, was man in der Hose hat, oder was … Ding … das ist jetzt kein, nichts was man notgedrungen so in der Öffentlichkeit darlegt oder drüber spricht. Nur halt jetzt für die Gelegenheit, wenn's eben um so'ne Entscheidung geht vor 'nem Gericht, und dann 'nen Gesetzentwurf, der das korrigieren soll oder was auch immer … Wenn man jetzt offen rangegangen wäre, einfach 'nen Gesetzentwurf zu machen, wo einfach drauf geachtet wird, dass das Kindeswohl tatsächlich noch besser verankert wird und es nicht nur ein einzelnes Landgericht braucht, das sich da mal anders reinfuchst.

VS: Naja, 'tschuldigung, das ist ja grad' das Problem: Es geht ja um anderer Leute Genitalien. Und deswegen … Normalerweise interessiert einen nicht, was in anderer Leute Hose ist. Aber das tut man ja, indem man Maßstäbe ansetzt, die auf andere Menschen übertragen werden. Das ist ja genau das Problem. Das können wir eigentlich auch gleich von Anfang an klarstellen. Wir haben heute sehr viel Zeit, auch um sehr viele Mythen aufzuräumen. Oder sagen wir mal so: Was heißt aufzuräumen? Dazu eben Fakten zu bringen, um unter Umständen das etwas zu erhellen. Und da gehört das zum Beispiel auch dazu.

Mythos Massenphänomen

Es wurde oft gesagt, dass das ja ein Massenphänomen sei und das sei ja so doll verbreitet. Das stimmt auch und das ist nicht … überhaupt kein Thema von Minderheiten in Deutschland alleine, sondern das geht quer durch alle Gesellschaftsschichten, also zum Beispiel Betroffene wie ich … gehören eigentlich zur größten Gruppe von Betroffenen in Deutschland, die aus medizinisch eben meist sehr fragwürdiger Indikation diesen Teil des Genitals verloren haben, der ihnen abgeschnitten worden ist. Das ist auch ganz wichtig. Das ist ein großer Mythos, dass es hier irgendwie um Mehrheiten und Minderheiten geht. Das geben die Zahlen einfach gar nicht her.

Und ein weiterer Mythos ist eben, dass es eben ein Massenphänomen ist, in der Hinsicht, dass dieses Massenphänomen eben ausschließlich dadurch zustande kommt, dass Menschen um ihre Selbstbestimmung gebracht werden, dass man es an Kindern ausführt. In allen Gesellschaften, wo Genitalverstümmelungen - egal, an wem - nicht zu den gängigen Riten gehören, die man an Kindern vollführt, sind das totale Randphänomene, wie andere kosmetische Operationen auch. Ein Massenphänomen entsteht immer nur dadurch, dass die physische Überlegenheit letztlich ausgenutzt wird. Das ist auch ein Fakt. Also das Argument, was gebraucht wird, um die angebliche Gewöhnlichkeit des Ganzen darzustellen, ist in Wirklichkeit ein trauriges Zeichen für massenhaften Zwang. Das ist die erste Voraussetzung, dass es [ein] Massenphänomen ist.

CP: Ja, man würde davon ausgehen, dass, wenn das alles auf 'ner Freiwilligkeit beruhte, dass halt wesentlich weniger vorkommen würde.

VS: Das ist Fakt. Das ist in allen Gesellschaften so, das ist gar keine Frage. Das kann man ja ablesen.

CP: Es ist ja auch 'ne komische Frage: "Möchtest du mündiger Bürger, dass ich an deinem Genital rumschneide, was medizinisch nicht indiziert ist?"

VS: Ja gut, das macht man dann halt selber, wie andere kosmetische Operationen auch, in mündiger Eigenentscheidung. Und da gibt's ja alle möglichen Sachen. Und da wären wir wieder bei dem, was du gesagt hast: Natürlich, da geht mich nämlich überhaupt nichts an, was in anderer Leute Hosen ist. Das stimmt.

Mythos kontra oder pro Beschneidung

Da sind wir schon beim nächsten Mythos, wo ich jetzt grad dran denke, sag ich jetzt, dass es etwas mit kontra oder pro Beschneidung zu tun hat, was wir als Verein zu tun haben. Das hat es natürlich auch nicht. Ich bin weder pro noch kontra Vorhautamputation, oder wie man das auch immer nennen will - Vorhautamputation ist der neutrale Begriff, weil da etwas irreversibel abgeschnitten wird; amputare heißt ringsherum abschneiden. Ich könnte auch "Vorhautentfernung" sagen, "Vorhaut abschneiden" gibt's nicht so richtig in Deutsch. In Englisch dieses "cutting" zeigt das deutlicher. Medizinisch sagt man Zirkumzision. Das kann jeder machen, wie man will. Das geht mich überhaupt gar nichts an. Das wär' kein Thema, [und] wir würden diese Sendung heut' nicht machen, wenn das wie andere kosmetische Operationen nur in mündiger Eigenentscheidung passieren würde. Die Sendung müssen wir nur machen, weil eben diese mündige Selbstbestimmung übergangen wird. Es ist also … Das Thema ist nicht "Pro - Kontra", wie gesagt. Ich darf es nicht beurteilen, wenn das jemand an sich gerne machen will, an sich schön findet, geht mich das nichts an. Es wäre übergriffig, zu sagen, ich bin jetzt dagegen oder das ist schlecht. Das musst du selber beurteilen.

Was mich aber was angeht - was wir mit Kindern machen, und was mit unseren Grundrechten passiert. Und die Reaktion, die auf dieses Kölner Urteil dann letztlich politisch umgesetzt wurde am 12. Dezember, heute vor neun Jahren, war ja eben grade eine Rechtlosstellung, eine Grundrechtseinschränkung für Kinder ab Geburt, je nachdem, wie sie zwischen den Beinen aussehen.

CP: Das noch dazu! Also nicht nur, dass an den Kindern was gemacht werden darf, oder dass diese Beschneidung durchgeführt werden darf, obwohl man zum Beispiel wahrscheinlich seine Kinder nicht piercen lassen kann, ja? …

VS: Nein, natürlich nicht, darf man alles nicht.

CP: Aber das [die Beschneidung] ist in Ordnung … Sondern, dann auch noch, dass das damit einhergeht, dass das nur Jungens passiert.

VS: Genau. Wir müssen wirklich den Gesetzestext mal angucken, oder?

CP: Schauen wir mal rein.

VS: Den haben wir ja jetzt noch nicht angeguckt in der zweiten Version, glaub ich, oder im zweiten Anlauf.

CP: Genau.

[Grafik Gesetzestext § 1631d BGB]

VS: Ja, im 1631 im Bürgerlichen Gesetzbuch ist eigentlich das Recht der elterlichen Personensorge dargestellt und auch das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung, seit dem Jahr 2000. Das war auch übrigens gegen einigen Widerstand … ist das damals.

CP: Das war "Die berühmte Watsch'n hat noch keinem geschadet."

VS: Richtig. Und da gingen auch ganz ähnliche Sätze durch den Äther wie 2012 nach dem Motto, man würde ja jetzt Eltern kriminalisieren und man meint das ja alles gar nicht so. Und genau, was du sagst: "Es hat noch keinem geschadet." Trotzdem hat sich damals politisch durchgesetzt, hier eine grundsätzliche Haltung einzunehmen. Die hat natürlich nicht dazu geführt, dass jetzt massenhaft Kinder ihre Eltern dann angezeigt haben. Nein, das ist nicht passiert. Trotzdem hat der Staat grundsätzlich dargestellt: "Das geht nicht, das ist Unrecht."

Und spätestens seitdem ist jegliche Überschreitung der Grenze "Körperverletzung" an Kindern verboten. Auf der Basis konnte auch das Kölner Urteil überhaupt gefällt werden.

CP: Schon interessant, dass man sowas überhaupt feststellen muss im Gesetz, sondern dass das nicht von vornherein klar war. Aber das ist das …

VS: Oh - nee, das war gar nicht … Das Züchtigungsrecht, also das hat's lange gegeben. Ich hab das auch nochmal nachgeforscht; das ist sehr interessant. Also nach dem zweiten Weltkrieg war das ja nur dem Vater erlaubt, das Kind zu züchtigen. Dann, die erste Veränderung war, dass das auch Mütter durften. Also das war also nicht so, dass das Kind geschützt wurde, sondern dann durften beide Eltern ran. Und ab dem ging es dann stückweise immer in Richtung Kinderschutz, bis im Jahr 2000 einfach das völlig klar ist.

Vor allem - ganz wichtig - die Sozialadäquanz. Also der Faktor, dass man irgendwas schon ganz lange gemacht hat, dass es so'ne Art Gewohnheitsrecht gibt, das es "noch keinem geschadet hat", all' solche Dinge, die fielen raus. Das heißt, das Kind wurde selber wirklich ganz klar als Rechtssubjekt hervorgehoben, und unabhängig von der Motivation, warum man "das" tut. Das ist ganz, ganz wichtig. Deswegen sagen wir auch immer: "Eine Kinderrechtsverletzung grundsätzlich, ob es sich um eine handelt, entscheidet sich danach, was mit dem Kind passiert, und nicht, was Erwachsene dabei denken."

Das ist unser Recht gewesen bis zum 12.12.2012, uneingeschränkt, und dann kam dieser Paragraph. Den müssen wir jetzt mal durchgehen.

Seitdem heißt es dann:

Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll.

"Soll" - komisch, oder? Warum steht da nicht "durchgeführt wird"? Da steht "soll".

Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird.

Da gibt's also eine Einschränkung. Wann ist denn das Kindeswohl gefährdet? Oder ich würd' ja auch immer sagen, das Erwachsenenwohl, denn die Vorhaut ist nicht auf einmal wieder dran, wenn man erwachsen ist und sexuell aktiv wird. Was ist eigentlich mit meinem Erwachsenenwohl, mit meinem Recht auf eine erfüllte Sexualität? Oder auf das Entdecken meines vollen Sexualpotenzials, wozu vielleicht auch meine vollständigen Genitalien gehören.

CP: Gibt's denn da konkret tatsächlich 'nen Sachbestand, Tatbestand oder sowas, wo das wäre, wo man sagt: Okay, das geht jetzt nicht, weil das Kindeswohl gefährdet ist? Oder ist das letztlich 'n leerer Satz?

VS: Neenee, das gibt's schon. Also Kindeswohlgefährdung ist ja absolut, was in der Rechtsprechung auch passiert. Zum Beispiel, wenn Kinder aus Familien genommen wegen Misshandlung und so, das gibt's, ja.

CP: Ja, aber jetzt im Bezug auf die Beschneidung, also …

VS: Nein, da gab's noch kein Urteil zu, wo ein Richter diese Karte gezogen hätte. Aber sie ist da.

CP: Ja, sie ist da, aber wenn ich im Vorhinein feststelle, dass eine Beschneidung nicht grundsätzlich das Kindeswohl gefährdet, dann ist doch eigentlich ein bisschen so'n Plazebo-Satz da, wo man sagt, den haben wir jetzt noch mit reingeschrieben, falls jemand sagt, wir achten nicht auf das Kindeswohl. Aber letztlich … wenn das nicht reicht, um das Kindeswohl zu gefährden, was soll denn überhaupt noch passieren dabei? Also …

VS: Ich warte auf die Richter, die das anwenden, die seriös sind und sich mit der Materie so befassen, dass sie das gut begründen. Ich find's gut, dass der Satz drin ist. Ich find's eigentlich auch ganz erstaunlich.

CP: Ja. Wo ich eigentlich auch nochmal drauf zurückkommen wollte: Wir haben jetzt gehört, ab 2000 stand eben das Kindeswohl im Gesetz. Und trotzdem hat's auch da wieder zwölf Jahre gedauert, bis sowas aufgrund einer Beschneidung passiert ist, dieses Urteil. Es hat ja mit Sicherheit die Jahre zwischen 2000 und 2012 auch genügend Komplikationen gegeben, die unter Umständen hätten vor Gericht landen können. Aber das war Zufall, oder ist das einfach …

CP: Ja, das ist ja oft so, dass letztlich Rechtsprechung gesellschaftliche Entwicklung und vor allen Dingen so Klarwerdungsprozesse voranlaufen. Und das war da auch so, das war ja schon länger Thema, auch in juristischen Fachkreisen. Da gab's Artikel zu, in der Medizin wurde das zunehmend diskutiert.

Unsere Rechtsgeschichte ist voll von Dingen, die Jahrzehnte lang bestanden und auf einmal an neuen Erkenntnissen, ethischen Entwicklungen man merkt, was wir da tun, wird eigentlich unseren rechtlichen Ansprüchen gar nicht gerecht. Man muss sich mal vorstellen, sowas wie "Die Würde des Menschen ist unantastbar" steht ja im Grundgesetz, und wann wurde der 175er abgeschafft? Wieviel Jahrzehnte hat man gebraucht, dass also die freie Auslebung von einvernehmlicher Sexualität … eigentlich der … wenn man das nicht … wurde sogar mit Strafe eben bedroht, dass das eigentlich die Würde des Menschen verletzt. All das gibt's ganz oft. Und eine solche Entwicklung haben wir eben hier auch gehabt, die letztendlich dann zu dem Kölner Urteil geführt hat. Es hätte auch fünf Jahre vorher oder ein paar Jahre später sein können.

CP: Na, dann warten wir jetzt auf so'ne Entwicklung, dass irgendwann auch der zweite Satz im ersten Absatz dann in 'nem Urteil mal 'ne Rolle spielt. Wir gehen nochmal auf die Folie für den zweiten Absatz …

[Grafik Gesetzestext § 1631d BGB]

VS: Ja, der ist auch interessant. Da geht's eben darum, religiöse Rituale bei sehr kleinen Babys durch Nichtärzte zu erlauben. Das geht ja eigentlich gar nicht. Operationen in Deutschland machen Ärzte, niemand sonst. Bis zum 12. Dezember 2012 war das auch so. Seitdem dürfen das, wenn Kinder einen Penis haben und Erwachsene die Vorhaut abschneiden wollen, können das auch von Religionsgesellschaft[en] dafür vorgesehene Personen machen, die …

dafür besonders ausgebildet sind und, ohne Arzt zu sein, für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt sind.

Das ist auch sehr interessant, weil erstmal gar nicht gesagt wird, was die Beschneidung ist; das wird im ganzen Gesetz nicht beschrieben. Wieviel von was wird da eigentlich abgeschnitten? Und für eine Operation braucht man 'n Arzt. Hab ich ja eben schon gesagt. Und etwas gleichbar Befähigtes wie einen Arzt für eine Operation, das gibt es überhaupt gar nicht. Also das hat man erfunden, um dem irgendwie Genüge zu tun, diesem Bedürfnis. Und man … Da steht ja auch "Wer definiert männlich?" Das hat auch keiner definiert.

CP: Ja, aber wie will man sowas vergleichen? Wenn man jetzt sagt, also du hast auch zwei Hände, du zitterst nicht, du bist kein Alkoholiker, du bist wach, du hast 'nen Kittel an und du hast das geübt, …

VS: Nee, es kommt auf den Vorgang an, Christoph. Also, 'ne Injektion kann sicher eine Krankenpflegerin genauso gut geben wie ein Arzt.[…]

CP: […] Allerdings immer unter der Verantwortung des Arztes. Also unterschreiben für solche Sachen tut dann immer noch der Arzt. Und die MFA, oder was das in der Praxis macht, handelt quasi im Auftrag.

VS: Aber 'ne Operation und 'ne Anästhesie, die bei 'ner Operation vorgesehen ist, Standard ist … Das heißt, hier wurde ein "Substandard" eingeführt. Das ist Gesetzeslage seit 2012.

Mythos: Religiöse Beschneidungen bleiben erlaubt

Wir sehen, das ist auch ganz wichtig - nächster Mythos: [Es] steht immer wieder [in den Medien], religiöse Beschneidungen blieben erlaubt in Deutschland. Wieviel Sachen sind in diesem einen Satz schon falsch?

CP: Von Religion war jetzt nicht die Rede.

VS: [Davon] Sehe ich da nichts. Haben auch, denke ich, alle Zusehenden nochmal gesehen: Da steht nichts, außer was diese Befähigungsgeschichte [angeht]. Ansonsten, was die Motivation der Vorhautamputation angeht, gar nichts.

Was ist das Kriterium, dass man einem Kind eine Beschneidung, die ja auch nicht definiert ist, zufügen darf? Ja, dass das Kind männlich ist. Das ist die einzige Einschränkung. Was männlich ist, erfährt man auch nicht. Das steht da auch nicht drin.

Aber von religiöser Beschneidung da nichts. Das ist kein Kriterium. Das hat der Gesetzesgeber natürlich auch gewusst, dass es kein Kriterium ist. Weil die Religionsfreiheit nicht so weit geht, dass man andere Menschen verletzen darf. Also das ist deswegen: Wenn man das behauptet, ist es deswegen schon falsch. Das kann man gar nicht erlauben. Also die Religionsfreiheit geht einfach nicht so weit. Und der Beweis dafür ist, dass ja selbst der Gesetzesgeber, der ja sehr gewillt war, das zu erlauben, [das] nicht so in eine solche Gesetzesform gegossen hat, sondern in das Gesetz der Personensorge, weil man natürlich sagen könnte, es geht natürlich auch nicht … Erziehungsrecht … Spätestens seit 2000, haben wir ja gelernt, darf man auch nicht, keine Gewalt mehr anwenden. Alles, was die Körperverletzungsgrenze überschreitet, ist verboten. Aber da war das zumindest mal so, dass Eltern solche Entscheidungen getroffen haben und ja auch in zum Beispiel medizinisch notwendige Körperverletzungen rechtsgültig einwilligen dürfen.

Aber auch da geht's eigentlich nicht, aber das war sozusagen "das kleinere Übel". Aber damit ist das eben - wichtig - aus jeglichem Grunde erlaubt. Es gibt keine Einschränkungen in der Motivation. [Das einzige] Kriterium ist: männlich.

CP: Es ist auch wirklich … "Die Personensorge umfasst auch das Recht, […] einzuwilligen." Also ich hab das Recht, einzuwilligen. Das klingt ja dann so, als ob jemand anders das machen würde und ich willige ein dazu. Aber es ist ja nicht so. Sondern in dem Fall ist die Personensorge, die das Recht, also das Recht, dann in diese Operation einzuwilligen, ist ja mein Wille, in den ich einwillige.

VS: Ja, stellvertretend. Das ist nämlich auch nochmal wichtig. Das Erziehungsrecht ist ja kein absolutes Recht, sondern ein stellvertretendes. Das ist auch nochmal anders bei der Religionsfreiheit zum Beispiel: Das ist mein Recht auf, mein Grundrecht auf Bekenntnis und auf Ausübung meiner Religion. Der Unterschied - das Erziehungsrecht ist ein stellvertretendes Recht. Also das kann natürlich auch nicht so weit gehen. Es ist ein Hilfskonstrukt.

Man kann sagen, die Mitarbeitenden im Justizministerium, die diesen Sommer 2012 die Aufgabe bekommen haben, diesen politischen Willen in ein Gesetz zu gießen, die waren echt nicht zu beneiden. Weil, wie will man das machen? Und das Ergebnis ist ja auch jämmerlich, wie man sieht. Das versteht eigentlich jeder.

CP: Es hat aber jetzt nach neun Jahren noch keiner irgendwie geschafft, dass das mal rein auf 'ne Verfassungskonformität oder auf sonstige Standards hin geprüft wird, ob das 'n vernünftiges Gesetz ist.

VS: Ja, weil es sehr hohe Hürden in Deutschland gibt, Gesetze zu prüfen auf Verfassungsgemäß[heit]. Das könnte eine Landesregierung machen, oder ein Viertel des deutschen Bundestages, mit einer sogenannten Normenkontrolle. Kam aber bisher noch nicht zusammen. Oder ein Betroffener selber von dem Gesetz müsste sich durchklagen mit Erreichen des 18. Geburtstags, wo die Tat eigentlich verjährt ist. Das ist ja auch das Schlimme. Warum ist sie verjährt? Weil das betroffene Kind ein Junge ist. [Wenn's] ein Mädchen wär', wäre's nicht verjährt. Also, es war ganz klar auch immer das Ziel, das war auch damals in Ausschüssen so, ich war auch in Sitzungen unterwegs damals, es ging auch ganz klar darum, eben die Klagemöglichkeit der Betroffenen zu erschweren, fast unmöglich zu machen. Man kann natürlich immer klagen. Die Fragen sind: Welche Erfolgsaussichten hat man? Und die sind eben dadurch sehr erschwert worden, weil das, was da dann an einem passiert ist, eben erlaubt ist. Es ist erlaubt - seit diesem furchtbaren Tag.

Das ist auch immer wieder schlimm - das muss ich auch so grundsätzlich sagen für uns auch als Vertretung von leidvoll Betroffenen, diesen 12. Dezember zu erleben, weil einem das immer wieder bewusst wird, was damals eigentlich passiert ist: also diese Entwürdigung des eigenen Intimbereichs; diese Machtlosigkeit, die da zu verspüren war; dass man da letztendlich auch nichts tun konnte, weil eben […] die entscheidenden Eliten in diesem Land in Politik und Medien sich im Wesentlichen einig waren.

Natürlich gab's auch deutlichen Widerstand. Es gab immerhin einhundert Abgeordnete des deutschen Bundestages aus dem demokratischen Spektrum - es gab damals ja noch keine AfD im deutschen Bundestag - die Nein dazu gesagt haben, und das sind auch einige, die heute noch im Bundestag sind. Wir gehen ja nachher auch noch viele Personen durch. Das ist auch sehr wichtig. Ja, weil die Personen ja in Verantwortung stehen für das, was sie damals gesagt und entschieden haben, weil eben die Folgen bis heute ganz konkret für die Betroffenen ja andauern und jeden Tag weitergehen.

Ja, wie machen wir weiter? Vielleicht [damit,] was danach passiert ist. Denn es gibt … Also bis dato, bis zu diesem [12.12.2012], gab es ja überhaupt kein Sondergesetz zu dem Thema. Es gab allerdings schon ganz lange Forderungen von Frauenrechtlerinnen, insbesondere weibliche Genitalverstümmelung zu verbieten. Und das ging Jahre lang durch die politische Landschaft mit auch ähnlichen Begründungen damals, immer wieder erschwert, dass man sagte, man mische sich in andere Kulturen ein und das sei alles ganz schwierig und so.

Und dann komischerweise ein halbes Jahr, nachdem Jungs schutzlos gestellt wurden, da gab's dann auf einmal das Strafrechtsverbot, [das] strafrechtliche Verbot von allen Formen weiblicher Genitalverstümmelung. Ich glaube ja, dass diese zeitliche Abfolge kein Zufall ist, weil natürlich viele Interessenverbände auch von Frauenrechten nervös waren, weil die ja auf einmal leibhaftig erlebt … also nicht leibhaftig, aber wir alle [in] der Gesellschaft erlebt haben, wie auf einmal Menschenrechte teilbar wurden und wieder diskutiert werden konnten. [Dass] sie eben nicht mehr universell galten, sondern [dass die Menschen anfingen] zu diskutieren, wieviel darf man eigentlich bei wem abschneiden, dass das noch okay ist, und so …

Also das war ja unglaublich. So'ne Diskussion hat es ja vorher in dem Sinne noch nie gegeben. Und um das dann schnell zu beruhigen, denk' ich, war das mit ein Impuls - das kann kein Zufall sein - dass es dann im Juni des Jahres darauf eben diesen Strafrechtsparagraphen gab. Den können wir auch mal durchgehen.

CP: Den leg ich mal auf, den 226a.

§ 226a StGB

[Folie StGB § 226a]

VS: Genau. Da steht dann eben:

Wer die äußeren Genitalien einer weiblichen Person verstümmelt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. In minder schweren Fällen ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen.

Was ist denn hier interessant?

CP: Also es ist wiederum … dadurch, dass hier weniger Text auf der Folie steht, springt's noch schneller ins Auge, dass überhaupt da steht: "eine weibliche Person". Also dass da dieser Unterschied gemacht wird, wo man …

VS: Ja, männlichen, was hattest Du? … Zwischen "männlichen Kindes" und hier "weiblicher Person". Also da scheint das Alter keine Rolle zu spielen. Und ich finde interessant: "Verstümmelung". Da steht auf einmal "Verstümmelung".

Verstümmelung - [da] gibt's 'ne Definition für, 'ne offizielle, die heißt: "Die als negativ empfundene, radikale Veränderung des Körpers durch äußere Einwirkung … kann [sowohl] für den Vorgang als für das spätere Ergebnis stehen."

Da steht "… die als negativ empfundene …". Das wissen wir überhaupt gar nicht. Das können wir auch nicht wissen und es ist übergriffig, das für jede Person erst einmal vorzubestimmen, dass die sich verstümmelt fühlt, wenn ihnen was passiert. Wir wissen hier ja auch nicht, was passiert ist. Also Verstümmelung wäre jetzt die radi… Also nur wenn … Eigentlich wär' hier ja quasi eine Einschränkung: Also nur wenn du dich davon … wenn du die als negativ empfindest, war das ein Straftatbestand.

CP: Dann gilt diese, genau. Ansonsten …

VS: Was ich ganz, ganz schlecht finde, … find' ich ganz, ganz schlecht, denn unabhängig davon, wie eine Person vielleicht nachher das für sich deutet, was ihr passiert ist, was ihre Privatsache ist, was mich nichts angeht, das da … Davon darf ja nicht abhängen, ob ich als Staat sage, ich seh' das als Straftat oder nicht. Also das ist auch fragwürdig. Also ich verstehe natürlich, dass man unter Umständen durch Einführung solcher Begriffe gesellschaftliche Sensibilität für ein Thema erreichen wollte und auch erreicht hat. "Verstümmelung" wirkt stärker, um Aufmerksamkeit zu kriegen. Im Juristischen find' ich das schwierig, wenn die Definition, die es dafür gibt, eigentlich subjektive Wahrnehmung auch mit beinhaltet. Weiß ich nicht … [Das] sind auch so Fragen, die man stellen kann.

Wir haben da noch 'ne Folie [da]zu.

CP: Äh, die Begründung haben wir dazu, ja, genau.

VS: Die ist nämlich auch spannend, weil man sieht: Was heißt das eigentlich? Und dann kommen wir nämlich ein bisschen näher, wenn wir in die Begründung reingehen.

[Folie § 226a StGB Begründung]

Davon sollen die Erscheinungsformen der Beschneidung von Frauen und Mädchen erfasst werden, …

Da steht übrigens auf einmal "Beschneidung" und nicht "abschneiden" oder "Verstümmelung".

CP: Das ist mit sehr heißer Nadel gestrickt.

VS: Ich weiß es nicht. Also das war ja Jahre lang unterwegs in den Ausschüssen.

… "die von der Weltgesundheitsorganisation typisiert umschrieben sind als Klitoridektomie, Exzision" (Einschneiden, nicht?)", Infibulation" (also dieses Zunähen der äußeren weiblichen Genitalien) "sowie weitere von diesen Erscheinungsformen nicht erfasste Veränderungen an den weiblichen Genitalien, wie Einschnitte," (Einschnitt wär' zum Beispiel ohne Gewebeverlust) "Ätzungen oder Ausbrennen."

Das stimmt. Die WHO hat vier verschiedene Typisierungen. Und die haben eine große Bandbreite, also von gar kein Gewebeverlust bis zu eigentlich alles Äußere weg und Zunähen. [Das ist] 'ne Riesenbandbreite, die aber alle unter dem Begriff "Verstümmelung" zusammengefasst werden, laut WHO. Machen die, unabhängig davon, was wir vorhin gesagt haben, wie eigentlich die Definition von Verstümmelung ist. Und jetzt schreibt er auch noch, der Gesetzgeber, dazu bei uns:

Für die Erfüllung des Tatbestandes ist es gleichgültig, in welcher Weise die Genitalverstümmelung vorgenommen worden ist.

Wir haben ja nun gerade gelernt bei Jungs, dass das ganz wichtig ist, das darf man und das darf man nicht und so weiter. Hier sagt man auf einmal: Völlig egal. Verstümmelung. Interessant, nicht?

CP: Das war ja dann, drei Monate danach, nochmal ein Schlag ins Gesicht.

VS: Sechs Monate danach. - Jein. Auf der Seite fanden wir auch immer gut, wenn mehr Kinder geschützt sind, grundsätzlich. Auf der anderen Seite muss man natürlich sagen, die waren ja vorher auch geschützt, weil ja schließlich das Recht auf gewaltfreie Erziehung sowieso galt. Das ist ein Verstärkung nochmal gewesen. Da wir sie auch ein bisschen als Abgrenzung verstanden haben der Schutzlosstellung von uns, war das schwer zu ertragen in der Hinsicht, das stimmt, ja.

Und man muss natürlich auch sagen: Jedes Gesetz, das Kinder erstmal mehr schützt, ist an sich zu begrüßen. Wenn dieser Schutz aber dann an Voraussetzungen gekoppelt ist, dass du so und so aussehen musst, sonst gilt der Schutz nicht, ist dieses Gesetz natürlich auch gleichzeitig diskriminierend. Das ist so. Das kann man auch nicht von der Hand weisen. Also, das wär' historisch zum Beispiel: Im deutschen Reich wurde ja irgendwann ein Wahlrecht eingeführt, aber das galt nur für Männer. Nur für manche Männer auch noch. Und dann irgendwann gab es erst Frauenwahlrecht und dann durften auch alle Männer wählen. Und dann kann man ja sagen: Bei dem ersten Mal, wo's überhaupt 'n Wahlrecht gab, kann man [ja sagen, das] war ja gut, dass überhaupt mal Leute wählen durften, nicht? Aber es war gleichzeitig diskriminierend gegen alle, die nicht wählen durften. Ich glaube, das ist 'ne Analogie, die jeder versteht. Und die haben wir hier eben auch. Seit dann, seitdem, seit dem Juni 2013 hatten wir dann eben ein Zwei-Klassen-Genitale-Selbstbestimmung-Kinderrecht in Deutschland.

CP: Was sind denn … was waren denn die Reaktionen dann? Also das Gesetz wurde verabschiedet am [12.12.2012]. Und dann wird ja mit Sicherheit … also irgendwann macht man ja mal 'ne Bestandsaufnahme oder was, was passiert - also das, außerhalb von euch jetzt, oder - also man sagt, nicht nur die Betroffenen, sondern auch irgendwie in den Medien oder so … Es muss ja nochmal irgendein Echo stattgefunden haben.

Stellungnahme DAKJ

VS: Ja klar. Wir können ja mal ein paar Stellungnahmen, ein paar Zitate durchgehen, was da so von außen kam. Lass uns doch mal - das finde ich nämlich echt sehr wichtig - was die DAKJ, die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin, gesagt hat dazu. Also da gibt es eine sehr umfangreiche Stellungnahme. Wo haben wir die denn? Hab ich die hier, oder hast du die?

CP: Ich hab sie als Folie, und wenn du sie auch hast …

VS: Da hab ich sie! Also, und zwar war das zu der sehr wichtigen Entscheidung des Rechtsausschusses am 26.11.2012 im Deutschen Bundestag. Und die war sehr ausführlich. Unter anderem waren da 1.800 Komplikationen in einer Zeitspanne vom 01.01.2010 bis 10.11.2012 aufgezählt, detailliert, für die Bundestagsabgeordneten … Also das haben die auch alle gewusst, auf den Tischen liegen gehabt. Und ich habe hier eine Folie ausgesucht, die [ich] besonders exemplarisch finde, weil sie jetzt nicht primär nur medizinische Fakten bringt, sondern auch eine Medizinethik ins Spiel bringt. Und zwar, da heißt es:

[Folie Stellungnahme DAKJ]

Eltern können hier ihre Einwilligung nicht stellvertretend für das Kind geben, da der Eingriff medizinisch nicht notwendig ist und die Eltern überhaupt nicht beurteilen können, welche Ansprüche an die Intaktheit seiner Körperoberfläche und seine sexuelle Erfüllung der Junge später hat oder nicht. Eigene Erfahrungen können hier kein Maßstab sein.

Ich find das einen ganz tollen Absatz, weil er so viel Respekt ausdrückt, einfach sagt: Ich weiß es nicht, es steht mir nicht zu. Und das sagen Mediziner, knallharte Mediziner. Das ist jetzt kein esoterischer Verband oder so - sondern die einfach sagen: Das kann man nicht tun, das dürfen wir nicht. Und um diese Respektdebatte geht's ja bei diesem Thema auch ständig. Wem dürfen wir eigentlich wie zu nahe treten? Und [die] Intimsphäre von anderen Menschen ist eben ein Tabu. Also, das ist eigentlich auch etwas Schönes. Das ist ja nicht schwer, darauf zu verzichten, sondern das sollte eigentlich auch ganz normal sein. Das haben die damals klar zum Ausdruck gebracht.

CP: Es wurde jetzt also nicht nur auf die Betroffenen nicht gehört, sondern auch auf die, die sich ansonsten damit beruflich beschäftigen. Also jetzt, heute beklagt man das, dass zu wenig Vertrauen in die Wissenschaft steigt, aber das war damals offensichtlich auch schon so: Wenn's mir nicht passt, dann hör' ich nicht auf die Wissenschaft, sondern, jetzt platt gesagt …

VS: Naja, momentan ist ja der Bundestag in vielen Bereichen doch so, dass sie sich sehr auf Wissenschaft berufen. Und da klingelt's mir natürlich immer in den Ohren, weil ich weiß, wie das damals in den Wind geschrieben wurde. Man muss sich das überlegen: Diese Stellungnahme war ja wirklich abgestimmt mit der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin, der Dachorganisation aller pädiatrischer Verbände in Deutschland. Also die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin. Die haben das zusammen verfasst, veröffentlicht.

Und hier ist auch wirklich der Satz drin: "Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist nach kinder- und jugendärztlicher Sicht strikt abzulehnen." Das steht hier drin. Das kann man immer noch durchlesen. Also das könnte man eigentlich heute, neun Jahre später, könnte man das genauso wieder veröffentlichen und es hat an seiner Gültigkeit nichts verloren. Da steht etwas viel zur Anatomie drin, da wird endlich mal das Organ beschrieben. Da wird einfach gesagt, was da passiert, um was es eigentlich geht. Da wird auch über Leid von Betroffenen berichtet. Das steht da alles drin. Hat jeder gewusst. Man musste schon ganz bewusst sagen, dem geb ich in dieser Thematik keine Priorität.

Besonders schlimm ist daran, dass sogar eine Überprüfung dieses Gesetzes aktiv abgelehnt worden ist. Dazu muss man wissen, dass es absoluter Standard ist, dass Gesetze, die medizinische Fragen betreffen, evaluiert werden. So nennt man das ja, also überprüft werden nach einer gewissen Anzahl von Jahren. Und dass eigentlich auch sofort in dem Gesetz festgelegt wird, wann das passiert. Weil man ja ein Interesse daran hat, den aktuellen Wissensstand weiter zu verfolgen, eventuell auch Forschung in Auftrag zu geben, zu finanzieren, damit sich die Gesetzgebung eben an Wissenschaft orientiert. Wobei wir wieder bei dem sind, aktuell gerade: genau, an Wissenschaft orientiert.

Da gab es einen Änderungsantrag von einigen SPD-Abgeordneten, der das vorsah. Und dieser Änderungsantrag ist abgelehnt worden.

CP: … mit den gleichen Stimmen, mit denen das ganze Gesetz verabschiedet wurde? …

VS: Ich weiß nicht, das konnte ich nicht mehr herausfinden, wie da die Stimmverteilung war. Auf jeden Fall war der auch sofort wieder weg vom Tisch. Und das find' ich im Nachherein eigentlich noch das Unglaublichste von allem. Denn dass das vorher alles schnell ging und man nicht viel Sand im Getriebe wünschte, irgendwie dieses Ziel, was man ja anvisiert hatte, irgendwie vielleicht zu gefährden. Das ist die eine Sache. Die andere ist auch, dass man das für die Zukunft auch noch gleich festgeschrieben hat, dass man da nie wieder ran will, um das vielleicht einmal zu überprüfen.

Und ich finde es so politisch so unglaublich, weil das ja eigentlich auf dem Silbertablett wirklich für die Abgeordneten das Zeichen gewesen wäre, dieses Gesetz, sich über diese Entscheidung zumindest zu enthalten. Zu sagen, okay, in Gottes Namen würde ich dem grundsätzlich nicht im Wege stehen. Aber wenn man aktiv sagt, man will nie wieder wissen, was damit eigentlich ist, obwohl es um Kinder geht und man ja gleichzeitig auch in vieler[lei] Hinsicht auch immer wieder beklagt, es gäbe dazu relativ wenig Wissen und Infos und wenig Studien. Ja, dann müsste man ja eigentlich erst recht ein Interesse an Überprüfung haben.

Und dann zu sagen, man stimmt dem trotzdem zu …

CP: Ist ja eigentlich auch 'ne Sicherheit für mich, zu sagen: Okay, ich mach' jetzt was, aber wenn ich hinterher eines Besseren belehrt werde, da hab ich irgendwann die Chance, oder besteht die Chance, das automatisch korrigiert wird, auf 'ne Art und Weise?

VS: Ja. Ja, genau. Und dafür gibt's für mich dann entgültig keine Entschuldigung mehr. Auch nicht für den Herrn Bundespräsidenten, Herrn Gauck, der das dann in der … zwischen den Jahren … ich glaub, am 28.12.2012 mal eben unterschrieben hat. Er hätte das zurückgeben müssen! Sowas kann man nicht so machen! Das ist einfach so passiert. Und keine Evaluation, bis heute nicht. Jegliche Vorstöße, irgendwie auf parlamentarischer Ebene überhaupt darin ein bisschen tätig zu werden, sind bisher im Keim erstickt worden. Ich hab dazu ja auch Gespräche geführt. Wir von MOGiS haben dazu versucht, immer wieder über diesen Weg wenigstens mal ins Gespräch zu kommen. Das will bisher niemand. Und ich finde, das ist wirklich die absolute ethische Verpflichtung, wenn ich für so etwas Mitverantwortung trage, der letztendlich auch seriös gerecht zu werden, wenigstens das mit zu unterstützen und einzuleiten.

Komikernation

CP: Wer … also das muss man jetzt schon mal fragen … natürlich, wir haben 16 Jahre Merkel jetzt gehabt. Also das ist natürlich alles unter Merkel-Regierung gewesen. Ich erinner' mich auch, sie hat sich einmal geäußert … Da ging's um die "Komikernation" …

VS: Ja, wir können das ruhig sagen. Sie hat gesagt, Deutschland würde sich ja zur Komikernation machen, wenn man das verbieten würde. Das war alles. Find' ich - entschuldige, wenn ich dich unterbreche - aber auch unsere frühere Kanzlerin hat doch auch immer sehr dieses Image gehabt, dass sie sehr kühl und sachlich entscheidet, wissenschaftsbasiert ist, sie sei ja selber Naturwissenschaftlerin. Das war das Einzige, was sie zu diesem Thema gesagt hat. Kann man vielleicht verstehen, dass uns das immer wieder auch triggert und trifft, wenn sich die gleichen Leute dann in anderen Zusammenhängen so besonders als sachlich und wissenschaftsbasiert und so weiter darstellen oder dargestellt werden? Dass sie auf diesen Widerspruch auch nicht hingewiesen werden? Dass da nicht nachgefragt wird: Ach so, interessant, auf einmal. Was war denn damals, warum …? Es ist ja schön und gut, aber warum sehen Sie da keinen Widerspruch?

Dass die damit durchkommen, das ist immer wieder schlimm …

CP: Da sind ja auch einige andere, die damit durchgekommen sind. Also, es wurde ja auch über alle Fraktionen hinweg verabschiedet, das ist ja … Gab's Fraktionszwang zu dem Zeitpunkt?

VS: In der Regierungskoalition aus CDU und FDP ja. Und die haben ja auch da ziemlich geschlossen für dieses Gesetz gestimmt. Und in den anderen Parteien gab's keinen Fraktionszwang.

CP: Aber es gab trotzdem genug Abgeordnete, die - anders als bei anderen Gesetzen, die die Regierungsmehrheit vorlegt oder sowas - wurde ja parteiübergreifend zugestimmt. Also das ist ja mit 'ner großen Mehrheit passiert.

VS: Ja. Ja, die Hälfte der Grünen-Abgeordneten haben auch zugestimmt und aber [eine] Minderheit nur der Linkspartei. Also die Linksfraktion war die einzige, die das mehrheitlich abgelehnt hat.

Alternativvorschlag

Und es gab ja auch einen Alternativvorschlag, das muss man sagen, der eben da einen Kompromiss vorgeschlagen hat, das ab vierzehn zu erlauben. Was eben auch ein Kompromiss war, weil man mit vierzehn Jahren normalerweise keine völlig nicht medizinisch indizierten Eingriffe vollziehen kann. Also das wär' auch schon 'ne deutliche Legalisierung gewesen und auch man sagen kann: Mit vierzehn sind auch nicht alle Jugendlichen so stark, sich auf Druck aus sozialem Umfeld wirklich zur Wehr zu setzen. Aber es war eben so in der Eile ein Kompromiss, ein Entgegenkommen, zu sagen: Okay, man sagt jetzt nicht achtzehn, was natürlich normalerweise selbstverständlich wäre. Man darf ab achtzehn erst ins Sonnenstudio, weil man sagt, Jugendliche können die Spätfolgen von sowas, die gegebenenfalls eintreten können, noch nicht überschauen. Beim Abschneiden von Teilen von Genitalien hätte man sich dann schon auf vierzehn geeinigt. Damit hatten wir auch ganz schön Bauchschmerzen, aber …

CP: … es wäre besser gewesen als das, was da jetzt liegt …

VS: Absolut! Da ist man sehr stark zugegangen auf die politische Initiative, das völlig zu legalisieren. Aber das nur eben 100 Ja-Stimmen erreicht.

CP: Aus aktuellem Anlass, weil wir haben ja gerade eine neue Regierung: Wen haben wir denn in der Regierung, der damals in irgendeiner Form beteiligt war oder mit abgestimmt hat? Und die andere Frage wäre: Erhoffst du dir von der neuen Regierung auch da, dass da vielleicht irgendwas in Bewegung kommt, was jetzt einfach die letzten 16 Jahre nicht mehr in Bewegung gekommen wäre?