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Ein schwarzer Tag für die Kinderrechte - wie lange noch?/Transskript

12.208 Bytes hinzugefügt, 14:31, 6. Feb. 2022
K
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'''VS:''' Nein, natürlich nicht, darf man alles nicht.
 
'''NN:''' Aber das [die Beschneidung] ist in Ordnung ... Sondern, dann auch noch, dass das damit einhergeht, dass das nur Jungens passiert.
 
'''VS:''' Genau. Wir müssen wirklich den Gesetzestext mal angucken, oder?
 
'''NN:''' Schauen wir mal rein.
 
'''VS:''' Den haben wir ja jetzt noch nicht angeguckt in der zweiten Version, glaub ich, oder im zweiten Anlauf.
 
'''NN:''' Genau.
 
[Grafik Gesetzestext § 1631d BGB]
 
'''VS:''' Ja, im 1631 im Bürgerlichen Gesetzbuch ist eigentlich das Recht der elterlichen Personensorge dargestellt und auch das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung, seit dem Jahr 2000. Das war auch übrigens gegen einigen Widerstand ... ist das damals.
 
'''NN:''' Das war "Die berühmte Watsch'n hat noch keinem geschadet."
 
'''VS:''' Richtig. Und da gingen auch ganz ähnliche Sätze durch den Äther wie 2012 nach dem Motto, man würde ja jetzt Eltern kriminalisieren und man meint das ja alles gar nicht so. Und genau, was du sagst: "Es hat noch keinem geschadet." Trotzdem hat sich damals politisch durchgesetzt, hier eine grundsätzliche Haltung einzunehmen. Die hat natürlich nicht dazu geführt, dass jetzt massenhaft Kinder ihre Eltern dann angezeigt haben. Nein, das ist nicht passiert. Trotzdem hat der Staat grundsätzlich dargestellt: "Das geht nicht, das ist Unrecht."
 
Und spätestens seitdem ist jegliche Überschreitung der Grenze "Körperverletzung" an Kindern verboten. Auf der Basis konnte auch das Kölner Urteil überhaupt gefällt werden.
 
'''NN:''' Schon interessant, dass man sowas überhaupt feststellen muss im Gesetz, sondern dass das nicht von vornherein klar war. Aber das ist das ...
 
'''VS:''' Oh - nee, das war gar nicht ... Das Züchtigungsrecht, also das hat's lange gegeben. Ich hab das auch nochmal nachgeforscht; das ist sehr interessant. Also nach dem zweiten Weltkrieg war das ja nur dem Vater erlaubt, das Kind zu züchtigen. Dann, die erste Veränderung war, dass das auch Mütter durften. Also das war also nicht so, dass das Kind geschützt wurde, sondern dann durften beide Eltern ran. Und ab dem ging es dann stückweise immer in Richtung Kinderschutz, bis im Jahr 2000 einfach das völlig klar ist.
 
Vor allem - ganz wichtig - die Sozialadäquanz. Also der Faktor, dass man irgendwas schon ganz lange gemacht hat, dass es so'ne Art Gewohnheitsrecht gibt, das es "noch keinem geschadet hat", all' solche Dinge, die fielen raus. Das heißt, das Kind wurde selber wirklich ganz klar als Rechtssubjekt hervorgehoben, und unabhängig von der Motivation, warum man "das" tut. Das ist ganz, ganz wichtig. Deswegen sagen wir auch immer: "Eine Kinderrechtsverletzung grundsätzlich, ob es sich um eine handelt, entscheidet sich danach, was mit dem Kind passiert, und nicht, was Erwachsene dabei denken."
 
Das ist unser Recht gewesen bis zum [[12.12.2012]], uneingeschränkt, und dann kam dieser Paragraph. Den müssen wir jetzt mal durchgehen.
 
Seitdem heißt es dann:
 
<blockquote>
Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll.
</blockquote>
 
"Soll" - komisch, oder? Warum steht da nicht "durchgeführt wird"? Da steht "soll".
 
<blockquote>Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird.
</blockquote>
 
Da gibt's also eine Einschränkung. Wann ist denn das Kindeswohl gefährdet? Oder ich würd' ja auch immer sagen, das Erwachsenenwohl, denn die Vorhaut ist nicht auf einmal wieder dran, wenn man erwachsen ist und sexuell aktiv wird. Was ist eigentlich mit meinem Erwachsenenwohl, mit meinem Recht auf eine erfüllte Sexualität? Oder auf das Entdecken meines vollen Sexualpotenzials, wozu vielleicht auch meine vollständigen Genitalien gehören.
 
'''NN:''' Gibt's denn da konkret tatsächlich 'nen Sachbestand, Tatbestand oder sowas, wo das wäre, wo man sagt: Okay, das geht jetzt nicht, weil das Kindeswohl gefährdet ist? Oder ist das letztlich 'n leerer Satz?
 
'''VS:''' Neenee, das gibt's schon. Also Kindeswohlgefährdung ist ja absolut, was in der Rechtsprechung auch passiert. Zum Beispiel, wenn Kinder aus Familien genommen wegen Misshandlung und so, das gibt's, ja.
 
'''NN:''' Ja, aber jetzt im Bezug auf die Beschneidung, also ...
 
'''VS:''' Nein, da gab's noch kein Urteil zu, wo ein Richter diese Karte gezogen hätte. Aber sie ist da.
 
'''NN:''' Ja, sie ist da, aber wenn ich im Vorhinein feststelle, dass eine Beschneidung nicht grundsätzlich das Kindeswohl gefährdet, dann ist doch eigentlich ein bisschen so'n Plazebo-Satz da, wo man sagt, den haben wir jetzt noch mit reingeschrieben, falls jemand sagt, wir achten nicht auf das Kindeswohl. Aber letztlich ... wenn das nicht reicht, um das Kindeswohl zu gefährden, was soll denn überhaupt noch passieren dabei? Also ...
 
'''VS:''' Ich warte auf die Richter, die das anwenden, die seriös sind und sich mit der Materie so befassen, dass sie das gut begründen. Ich find's gut, dass der Satz drin ist. Ich find's eigentlich auch ganz erstaunlich.
 
'''NN:''' Ja. Wo ich eigentlich auch nochmal drauf zurückkommen wollte: Wir haben jetzt gehört, ab 2000 stand eben das Kindeswohl im Gesetz. Und trotzdem hat's auch da wieder zwölf Jahre gedauert, bis sowas aufgrund einer Beschneidung passiert ist, dieses Urteil. Es hat ja mit Sicherheit die Jahre zwischen 2000 und 2012 auch genügend Komplikationen gegeben, die unter Umständen hätten vor Gericht landen können. Aber das war Zufall, oder ist das einfach ...
 
'''VS:''' Ja, das ist ja oft so, dass letztlich Rechtsprechung gesellschaftliche Entwicklung und vor allen Dingen so Klarwerdungsprozesse voranlaufen. Und das war da auch so, das war ja schon länger Thema, auch in juristischen Fachkreisen. Da gab's Artikel zu, in der Medizin wurde das zunehmend diskutiert.
 
Unsere Rechtsgeschichte ist voll von Dingen, die Jahrzehnte lang bestanden und auf einmal an neuen Erkenntnissen, ethischen Entwicklungen man merkt, was wir da tun, wird eigentlich unseren rechtlichen Ansprüchen gar nicht gerecht. Man muss sich mal vorstellen, sowas wie "Die Würde des Menschen ist unantastbar" steht ja im Grundgesetz, und wann wurde der 175er abgeschafft? Wieviel Jahrzehnte hat man gebraucht, dass also die freie Auslebung von einvernehmlicher Sexualität ... eigentlich der ... wenn man das nicht ... wurde sogar mit Strafe eben bedroht, dass das eigentlich die Würde des Menschen verletzt. All das gibt's ganz oft. Und eine solche Entwicklung haben wir eben hier auch gehabt, die letztendlich dann zu dem Kölner Urteil geführt hat. Es hätte auch fünf Jahre vorher oder ein paar Jahre später sein können.
 
'''NN:''' Na, dann warten wir jetzt auf so'ne Entwicklung, dass irgendwann auch der zweite Satz im ersten Absatz dann in 'nem Urteil mal 'ne Rolle spielt. Wir gehen nochmal auf die Folie für den zweiten Absatz ...
 
[Grafik Gesetzestext § 1631d BGB]
 
'''VS:''' Ja, der ist auch interessant. Da geht's eben darum, religiöse Rituale bei sehr kleinen Babys durch Nichtärzte zu erlauben. Das geht ja eigentlich gar nicht. Operationen in Deutschland machen Ärzte, niemand sonst. Bis zum 12. Dezember 2012 war das auch so. Seitdem dürfen das, wenn Kinder einen Penis haben und Erwachsene die Vorhaut abschneiden wollen, können das auch von Religionsgesellschaft[en] dafür vorgesehene Personen machen, die ...
 
<blockquote>dafür besonders ausgebildet sind und, ohne Arzt zu sein, für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt sind.
</blockquote>
 
Das ist auch sehr interessant, weil erstmal gar nicht gesagt wird, was die Beschneidung ist; das wird im ganzen Gesetz nicht beschrieben. Wieviel von was wird da eigentlich abgeschnitten? Und für eine Operation braucht man 'n Arzt. Hab ich ja eben schon gesagt. Und etwas gleichbar Befähigtes wie einen Arzt für eine Operation, das gibt es überhaupt gar nicht. Also das hat man erfunden, um dem irgendwie Genüge zu tun, diesem Bedürfnis. Und man ... Da steht ja auch "Wer definiert männlich?" Das hat auch keiner definiert.
 
'''NN:''' Ja, aber wie will man sowas vergleichen? Wenn man jetzt sagt, also du hast auch zwei Hände, du zitterst nicht, du bist kein Alkoholiker, du bist wach, du hast 'nen Kittel an und du hast das geübt, ...
 
'''VS:''' Nee, es kommt auf den Vorgang an, Christoph. Also, 'ne Injektion kann sicher eine Krankenpflegerin genauso gut geben wie ein Arzt.[…]
 
'''NN:''' […] Allerdings immer unter der Verantwortung des Arztes. Also unterschreiben für solche Sachen tut dann immer noch der Arzt. Und die MFA, oder was das in der Praxis macht, handelt quasi im Auftrag.
 
'''VS:''' Aber 'ne Operation und 'ne Anästhesie, die bei 'ner Operation vorgesehen ist, Standard ist ... Das heißt, hier wurde ein "Substandard" eingeführt. Das ist Gesetzeslage seit 2012.
 
== Mythos: Religiöse Beschneidungen bleiben erlaubt ==
Wir sehen, das ist auch ganz wichtig - nächster Mythos: [Es] steht immer wieder [in den Medien], religiöse Beschneidungen blieben erlaubt in Deutschland. Wieviel Sachen sind in diesem einen Satz schon falsch?
 
'''NN:''' Von Religion war jetzt nicht die Rede.
 
'''VS:''' [Davon] Sehe ich da nichts. Haben auch, denke ich, alle Zusehenden nochmal gesehen: Da steht nichts, außer was diese Befähigungsgeschichte [angeht]. Ansonsten, was die Motivation der Vorhautamputation angeht, gar nichts.
 
Was ist das Kriterium, dass man einem Kind eine Beschneidung, die ja auch nicht definiert ist, zufügen darf? Ja, dass das Kind männlich ist. Das ist die einzige Einschränkung. Was männlich ist, erfährt man auch nicht. Das steht da auch nicht drin.
 
Aber von religiöser Beschneidung da nichts. Das ist kein Kriterium. Das hat der Gesetzesgeber natürlich auch gewusst, dass es kein Kriterium ist. Weil die Religionsfreiheit nicht so weit geht, dass man andere Menschen verletzen darf. Also das ist deswegen: Wenn man das behauptet, ist es deswegen schon falsch. Das kann man gar nicht erlauben. Also die Religionsfreiheit geht einfach nicht so weit. Und der Beweis dafür ist, dass ja selbst der Gesetzesgeber, der ja sehr gewillt war, das zu erlauben, [das] nicht so in eine solche Gesetzesform gegossen hat, sondern in das Gesetz der Personensorge, weil man natürlich sagen könnte, es geht natürlich auch nicht ... Erziehungsrecht ... Spätestens seit 2000, haben wir ja gelernt, darf man auch nicht, keine Gewalt mehr anwenden. Alles, was die Körperverletzungsgrenze überschreitet, ist verboten. Aber da war das zumindest mal so, dass Eltern solche Entscheidungen getroffen haben und ja auch in zum Beispiel medizinisch notwendige Körperverletzungen rechtsgültig einwilligen dürfen.
 
Aber auch da geht's eigentlich nicht, aber das war sozusagen "das kleinere Übel". Aber damit ist das eben - wichtig - aus jeglichem Grunde erlaubt. Es gibt keine Einschränkungen in der Motivation. [Das einzige] Kriterium ist: männlich.
 
'''NN:''' Es ist auch wirklich ... "Die Personensorge umfasst auch das Recht, […] einzuwilligen." Also ich hab das Recht, einzuwilligen. Das klingt ja dann so, als ob jemand anders das machen würde und ich willige ein dazu. Aber es ist ja nicht so. Sondern in dem Fall ist die Personensorge, die das Recht, also das Recht, dann in diese Operation einzuwilligen, ist ja mein Wille, in den ich einwillige.
 
'''VS:''' Ja, stellvertretend. Das ist nämlich auch nochmal wichtig. Das Erziehungsrecht ist ja kein absolutes Recht, sondern ein stellvertretendes. Das ist auch nochmal anders bei der Religionsfreiheit zum Beispiel: Das ist mein Recht auf, mein Grundrecht auf Bekenntnis und auf Ausübung meiner Religion. Der Unterschied - das Erziehungsrecht ist ein stellvertretendes Recht. Also das kann natürlich auch nicht so weit gehen. Es ist ein Hilfskonstrukt.
 
Man kann sagen, die Mitarbeitenden im Justizministerium, die diesen Sommer 2012 die Aufgabe bekommen haben, diesen politischen Willen in ein Gesetz zu gießen, waren echt nicht zu beneiden. Denn wie will man das machen? Und das Ergebnis ist ja auch jämmerlich, wie man sieht. Das versteht eigentlich jeder.

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