Kollektive kognitive Dissonanz

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Der Begriff Kollektive kognitive Dissonanz wurde in der Beschneidungsdebatte 2012 von Ulf Dunkel geprägt und beschreibt das auch über Generationen bestehende Problem der kognitiven Dissonanz für eine Gruppe von Menschen.

Inhaltsverzeichnis

Allgemeine Definition

Kollektive kognitive Dissonanz bezieht sich auf ein psychologisches Phänomen, bei dem eine Gruppe von Menschen an Überzeugungen oder Einstellungen festhält, die ihren Handlungen oder Erfahrungen widersprechen. Dies kann zu einem Gefühl von Unbehagen oder Dissonanz innerhalb der Gruppe führen, aber anstatt ihre Überzeugungen oder Handlungen zu ändern, kann die Gruppe ihr Verhalten rationalisieren oder rechtfertigen, um das Unbehagen zu verringern.

Beispielsweise kann eine Gruppe von Menschen, die an den Umweltschutz glauben, weiterhin umweltschädliche Praktiken wie übermäßigen Konsum oder das Fahren spritfressender Autos ausüben. Anstatt den Widerspruch zwischen ihren Überzeugungen und Handlungen zu konfrontieren, können sie ihr Verhalten rationalisieren, indem sie sich sagen, dass sie kleine Beiträge zur Sache leisten oder dass es in der Verantwortung von Regierungen oder Unternehmen liegt, größere Veränderungen vorzunehmen.

Kollektive kognitive Dissonanz kann auch in politischen oder sozialen Kontexten auftreten, in denen die Handlungen oder Überzeugungen einer Gruppe ihren erklärten Werten oder Prinzipien widersprechen. Dieses Phänomen kann schwer anzugehen sein, da es Einzelpersonen innerhalb der Gruppe erfordert, sich ihren eigenen Widersprüchen zu stellen und darauf hinzuarbeiten, ihre Überzeugungen und Verhaltensweisen zu ändern.

Kognitive Dissonanz

Kognitive Dissonanz bezeichnet in der (Sozial-)Psychologie einen als unangenehm empfundenen Gefühlszustand, der dadurch entsteht, dass ein Mensch mehrere Kognitionen hat – Wahrnehmungen, Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Wünsche oder Absichten –, die nicht miteinander vereinbar sind. (Wikipedia)[1]

Der Begriff wurde 1957 vom US-amerikanischen Sozialpsychologen Leon Festinger geprägt. Seine Theorie wurde seitdem in vielen Experimenten bestätigt und empirisch untermauert.

Dissonanzentstehung

Vier Schritte müssen durchlaufen werden, damit kognitive Dissonanz entsteht:
  1. Verhalten und Einstellung werden als widersprüchlich empfunden;
  2. das Verhalten geschah freiwillig;
  3. physiologische Erregung tritt ein;
  4. das Verhalten wird für die Erregung verantwortlich gemacht. (Wikipedia)[2]

Dissonanzauflösung

Da Dissonanz als unangenehm empfunden wird, versuchen Personen, die Kognitionen in Einklang zu bringen (sie in eine "konsonante" Beziehung zu bringen), um den negativen Gefühlszustand zu beenden. Die Dissonanzauflösung (auch Dissonanzreduktion genannt) kann an jedem der vier Entstehungsschritte ansetzen:
  1. Das zugrundeliegende Problem wird gelöst. Häufig ist es dabei notwendig, den Blickwinkel zu ändern, um neue Lösungswege zu erkennen. Mit der Lösung verschwindet auch die Dissonanz.
  2. Die Wünsche, Absichten oder Einstellungen werden aufgegeben oder auf ein erreichbares und somit konfliktärmeres Maß gebracht.
  3. Die physiologische Erregung wird gedämpft, z.B. durch Sport, durch ausgleichende Aktivitäten, durch Ruhe, durch Meditation, durch Alkoholkonsum[3], Beruhigungsmittel, Tabakkonsum oder Drogen.
  4. Die physiologische Erregbarkeit wird reduziert, z.B. durch ausreichende Ruhephasen, Vermeidung von vermeidbarem Stress, durch Sport und Gelassenheit.

Auch Scheinlösungen, Illusionen und Ausreden können Spannungen reduzieren:

  1. Die Erregung wird auf andere Ursachen zurückgeführt ("Die Scheinheiligkeit der Leute nervt mich").
  2. Der Widerspruch zwischen Verhalten und Einstellung wird heruntergespielt ("So schlimm ist mein Verhalten nun auch wieder nicht.")
  3. Das Verhalten wird als erzwungen dargestellt ("Ich musste so handeln.")
  4. Nichtwahrnehmen, Leugnen oder Abwerten von Informationen
  5. Selektive Beschaffung und Interpretation von dissonanzreduzierenden Informationen (Wikipedia)[4]

Kollektive kognitive Dissonanz

Mit Bezug auf die Beschneidung der Genitalien aus nicht-medizinischen Gründen gibt es häufig von Betroffenen und von den Gruppen, denen sie sich selbst zugehörig fühlen, eine Vielzahl von Argumenten für Beschneidung, die dazu dienen, die kognitive Dissonanz aufzulösen. Mit scheinbar sinnvollen, aber regelmäßig widerlegbaren Begründungen wird versucht, sich die Beschneidung schönzureden.

Falls zu der gesellschaftlichen Gruppe, der der Betroffene angehört, sehr viele ebenfalls Betroffene gehören, entwickeln sich solche Scheinbegründungen mit Gruppenbezug, um auch der Gruppe zu ermöglichen, sich die Beschneidung schönzureden.

Sobald diese Scheinbegründungen von einer Generation auf die nächste weitergegeben werden, werden sie zu einem Teil des Kulturguts dieser Gruppe und begründen die permanente Wiederholung des nicht begründbaren Akts der Beschneidung innerhalb der Gruppe.

Die kollektive kognitive Dissonanz hat nach Dunkel also drei Voraussetzungen:

  1. Kognitive Dissonanz einzelner Betroffener
  2. Kognitive Dissonanz der Gruppe, der einzelne Betroffene mit kognitiver Dissonanz angehören
  3. Kognitive Dissonanz der Gruppe über Generationen hinweg.

Der Autor von "Unspeakable Mutilations", Lindsay R. Watson, nennt dieses Phänomen das Beschneidungskoma, wenn es sich auf eine einzelne Person bezieht, die das Problem noch nicht realisiert hat.

Bertaux-Navoiseau (2022) nennt dieses Phänomen "kollektiven und generationenübergreifenden Wahnsinn (Stockholm- und Münchhausen-Stellvertretersyndrome)".[5]

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise